DAZ veröffentlicht in dieser Ausgabe die Arbeit Nr. 59 von Anastassija Chabarowa. Sie ist Teilnehmerin des Sprachwettbewerbs „Deutsch in meinem Heimatort“. Die Lebensgeschichte vieler in der Sowjetunion geborener Deutscher ist durch zerstörte Familien, vermisste Verwandte, Verhöre und Vertreibungen sowie vernichtete Schicksale gekennzeichnet. Nach solchen Ereignissen kann man kaum den Glauben an das Gute bewahren und sich des Lebens freuen. Ich habe aber eine Gelegenheit gehabt, mit einer außerordentlich interessanten Frau zu sprechen, die trotz der verbrachten Jahre und erlebten Ereignisse ihren Optimismus nicht eingebüßt hat, sie schaut mit Freude in die Welt. Diese Frau heißt Alexandra Alexandrowna Korotkowa-Bayer. Sie erzählte mir über ihr schweres Schicksal.

Alexandra Alexandrowna, erzählen Sie uns bitte etwas über sich! Wo sind Sie geboren, wer waren Ihre Eltern?

Ich bin 1929 in New York… ja, ja, genau in New York geboren. Ich sehe immer das Erstaunen in den Gesichtern der Menschen, wenn ich über meinen Geburtsort spreche. Mein „New York“ liegt weit weg von Amerika, es befindet sich im Gebiet Donezk, in der Ukraine. Heute heißt das Dorf Nowgorodskoje. Mein Vater Alexander Davidowitsch Bayer, ein Deutscher, hatte früh seine Mutter verloren. In seiner Familie gab es drei Kinder. Mein Vater hütete als Hirt das Vieh, um zu überleben. Danach, 1927, begegnete er einem Menschen, der eine mechanische Dreschmaschine besaß. Damit ging er durch die Dörfer und drosch Getreide für die Menschen. So verdiente er sich sein Geld. Mein Vater begann ihm zu helfen. Sie reisten durch verschiedene Dörfer, bis sie zum Gehöft Andrejewka gelangten. Dort lernte er meine Mutter, Wera Jewdokimowna Schewtschenko, eine Ukrainerin, kennen. 1928 heirateten sie, 1929 wurde ich und zwei Jahre später meine Schwester Eugenia geboren.

In welcher Tradition wurden Sie erzogen, welche Sprache sprachen Sie?

Wir sprachen in der Familie Russisch, pflegten aber sowohl deutsche als auch ukrainische Traditionen.

In welche Schule sind Sie gegangen, in eine deutsche?

Nein, in eine russische Schule. Im Jahre 1936 wurden alle deutschen Schulen geschlossen. Unser Vater wollte, dass wir später eine Fach- oder Hochschule besuchen. Aber ohne gute Kenntnisse der russischen Sprache wäre es schwierig gewesen.

Welche Erinnerungen haben Sie aus der Kindheit?

Ich erinnere mich gut an unsere Siedlung: dort gab es viele Fabriken, Mühlen, eine Eisenbahn. 1889 haben die Deutschen Grundstücke für ihre Kolonie beim Grafen Ignatjew gekauft und verschiedene Fabriken dort aufgebaut: für die Herstellung von Ziegelsteinen, Dachziegeln und Landwirtschaftsanlagen. Alle wohnten in Ziegelsteinhäusern mit Dächern aus Dachziegeln. Sogar die Straßen waren mit Ziegelsteinen gepflastert. Es gab viele Blumen, es war eine grüne, sehr saubere Siedlung.

Was machten Ihre Eltern?

Meine Mutter führte den Haushalt und zog uns Kinder groß. Mein Vater arbeitete als Mechaniker, danach von 1931 bis 1933 als Vorsitzender der Nachbarkolchose Leonidowka. Eines Tages im Winter fuhren mein Vater und andere Leute mit einem Bauernwagen über einen Fluss, das Pferd passierte eine schneefreie Stelle und der Bauernwagen kippte um… Mein Vater konnte das Pferd herausziehen, aber es war eine Stute, die daraufhin das Füllen abwarf. Es gab eine Gerichtsverhandlung, er wurde zu sechs Monaten Zwangsarbeit verurteilt. Dieses halbe Jahr wohnten wir im Dorf Gorlowka, wo mein Vater in einem Industriebetrieb arbeitete.

Ende der 30er Jahre veränderte sich das Leben vieler deutscher Familien drastisch. Inwieweit haben Stalins Repressionen Ihre Familie betroffen?

Ja… Im Jahre 1938 wurde mein Großvater und einen Monat später auch mein Vater direkt von der Arbeit fortgeführt und verhaftet. Wir wußten nichts über ihr Schicksal. Erst 1992 erfuhren wir, dass sie zwei Monate nach der Verhaftung erschossen wurden. Wir hatten kein Auskommen, meine Mutter begann nach einer Arbeit zu suchen. Als der Arbeitgeber erfuhr, dass ihr Mann verhaftet worden war, lehnte er sie sofort ab. Mein Vater hatte immer viele Freunde, aber nach der Verhaftung kommunizierte keiner mehr mit uns, die Leute grüßten uns nicht einmal. Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, nahm mich und meine Schwester zu sich, damit es meiner Mutter nicht so schwer fiel. Nach einem Jahr stellte der einzige Freund meines Vaters meine Mutter unter der Bedingung ein, dass keiner erfährt, dass er ihr geholfen hatte. Das Leben verbesserte sich, meine Mutter nahm meine Schwester Eugenia zu sich, ich blieb immer noch beim Onkel. In der Familie Onkels Davids sprach man nur deutsch, pflegte deutsche Traditionen… Kurzum, mir hat bei ihnen gut gefallen. Ich konnte meine Mama während der Ferien besuchen.

Der Krieg hat wahrscheinlich alles in Ihrem Leben umgekrempelt. Erinnern Sie sich noch an die Ereignisse der Kriegsjahre?

Im Jahre 1941 wurde mein Onkel David in die Trudarmee mobilisiert. Ein Teil der Einwohner, unter denen auch Deutsche waren, wurde weit verschickt, die Schützengraben auszuheben. Meine Mutter, meine Schwester und ich besuchten eine Tante, die 25 km von New York entfernt wohnte. Meine Mutter erfuhr auf dem Rückweg im Waggon, dass alle Deutschen aus den Dörfern vertrieben wurden. Als wir nach Hause kamen, war die Siedlung leer, still, nur die Hunde bellten, es war grausam. Zu Hause lag eine Benachrichtigung. Meine Mutter packte die Koffer, wir warteten, bis wir abgeholt wurden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden wir einfach vergessen, denn es kam keiner. Eine Woche lebten wir wie ohnmächtig in dieser Stille. Dann kamen deutsche Truppen in die Siedlung. Hier hatten sie ihren Umschlagbahnhof. Ein Kommandant kam in die Häuser, schaute sich die Lebensbedingungen an und danach wurden Soldaten in die Wohnhäuser einquartiert.

Sind es Faschisten gewesen?

Es waren gewöhnliche mobilisierte Soldaten, auf die zuhause ebenfalls Frauen und Kinder warteten, ganz normale Menschen. Es waren keine SS-Leute. Für die Soldaten auf dem Feld wurde in der Küche Brei gekocht. Sie bekamen ihre Portionen, danach wurde das Essen an die Dorfkinder verteilt. An Kinder verschiedener Nationalitäten. Wir besuchten sogar zu dieser Zeit noch die Schule. Aber die Seiten der Lehrbücher mit Abbildungen sowjetischer Politiker wurden zugeklebt…

Was ist weiter geschehen?

Im Jahre 1943 informierten uns die Deutschen, dass alle Volksdeutschen umgesiedelt werden sollten. Wohin wir gebracht werden sollten, wussten wir nicht. Zuerst kamen wir nach Polen, wo wir drei Monate verbrachten. Meine Mutter arbeitete dort bei einem Bauern. Danach wurde für uns ein anderes Lager bestimmt, dort lebten wir fünf Monate. Im Frühling wurden wir nach Jugoslawien in ein anderes Lager gebracht. Ich war zu der Zeit schon 14 Jahre alt und arbeitete zusammen mit meiner Mutter in einem Betrieb.

Welche Arbeit konnten Sie dort verrichten, Sie waren doch noch ein Kind…

Ich arbeitete an einer Schleifmaschine und an einer Fräsmaschine. Uns Kindern wurden die Kisten unter die Füße gestellt, damit wir an die großen Maschinen heranreichten. Kinder genauso wie Erwachsene arbeiteten in drei Schichten. Wir schliefen oft unter der Maschine ein… Unser Meister war gutmütig, er weckte uns nicht auf. Er gab uns eine halbe Stunde Zeit zum Schlafen, dann berührte er uns sanft an der Schulter und sagte „Steh auf!“ Jeden Samstag bekamen wir unseren Lohn im Umschlag, um Essen zu kaufen. So lebten wir damals.

Wie lange hat das gedauert?

An einem Aprilmorgen wachten wir auf und sahen sowjetische Soldaten. Damals marschierte schon die Sowjetmacht in Jugoslawien ein. Zwei Tage lang überlegten sie, was sie mit uns machen sollten, denn es handelte sich ja um ein Lager für Volksdeutsche. Dann wurden wir mit Fuhrwerken und Ochsenkarren durch ganz Europa zurückgefahren. Man sagte, wir fahren nach Kasachstan. Kurz vor der Abfuhr änderte sich die Lage, und es wurde uns mitgeteilt, dass wir nach Hause gebracht werden sollten. Wir fuhren sehr lange, ungefähr zwei Monate… Es gab kaum Essen, der Weg war schwer. Zu Hause, an der Bahnhofsstation, warteten bereits die NKWD-Mitarbeiter auf uns. Nach den Verhören wurde für uns das kleine Zimmer der Schwester meiner Mutter als Wohnsitz bestimmt. Im ersten Jahr hungerten wir sehr, denn wir hatten nicht mal einen eigenen Garten. Jede Woche rief man uns um 8 Uhr in die 7 km entfernte Stadt zum Verhör. Im Winter liefen wir im Dunkeln dorthin. Wir hatten so viel Angst ausgestanden! Denn man wusste ja nicht, ob man zurückkam oder nicht… Viele wurden nach dem Verhör über eine andere Tür hinausgebracht. Mein Herz stockt auch jetzt noch, wenn ich einen Polizisten auf der Straße sehe. Drei Menschen verhörten uns damals, sie versuchten uns zu verwirren. Meine Mama sagte mir sofort: „Sag, wie es wirklich war! Wir haben ja nichts Schlechtes getan. Wenn du etwas sagst, was nicht geschehen ist, verwirrt dich das nur!“ Danach wurden wir seltener verhört, aber wir mussten uns im Dorfrat wöchentlich melden und durften nicht fortfahren. Alle meine Freundinnen aus der Vorkriegszeit wendeten sich von mir ab. Das war sehr verletzend für mich.

Wie kamen Sie dann nach Kasachstan?

Ja, meine Geschichte hat keine Ähnlichkeit mit denen der Kasachstandeutschen. Ich bin freiwillig hierher nach Kasachstan gekommen, um Neuland zu erschließen.

Im Jahre 1952 heiratete ich. Wir lebten noch lange in der Ukraine, und schon damals hatten wir zwei Töchter. Dann fand uns der Bruder meines Vaters, derselbe Onkel David, bei dem ich als Kind gewohnt hatte. Es ist interessant, dass er uns viele Jahre lang suchte, bekam aber aus dem Dorfrat immer dieselbe Antwort, dass wir einfach nicht mehr da seien. Mein Onkel lebte nach der Trudarmee in Kasachstan. Er lud uns ein, hier bei der Neulanderschließung ein neues Leben zu beginnen, und wir folgten seiner Aufforderung.

Hier kam unsere dritte Tochter zur Welt. Heute lebe ich schon 50 Jahre hier.

Wohnen Sie jetzt bei Ihrer Familie?

Ich wohne jetzt mit meinem ältesten Enkel im Haus. Meine älteste Tochter verstarb 1981. Ich habe ihre beiden Kinder großgezogen. Eine Tochter lebt in Moskau, die andere in Deutschland. Ich habe fünf Enkel und vier Urenkel.

Die Beteiligung am Ensemble „Späte Blumen“ bei der Assoziation der Deutschen „Wiedergeburt“ bringt mir viel Freude. Wir singen dort deutsche Lieder, feiern gemeinsam deutsche Feste, sprechen über unser Leben. Im Ensemble habe ich sogar eine Frau getroffen, die auch in New York geboren wurde.

Alexandra Alexandrowna, fühlen Sie sich als Deutsche?

Ja, während meines ganzen Lebens habe ich mich als Deutsche gefühlt. Es war immer ärgerlich, dass sich die Leute so zu meiner Nationalität verhielten. Aber ich war immer eine Deutsche. Ich denke, dazu trug die Erziehung in der Familie meines Onkels bei, eine Erziehung im deutschen Geist.

Wollen Sie in Ihre historische Heimat nach Deutschland ziehen?

Ich möchte es sehr, aber im Jahre 2003 habe ich eine Absage erhalten.

Wie kommt das, Sie sind doch eine echte Deutsche und sprechen fließend deutsch.

Ich spreche gut Deutsch, trotzdem meinte der Ausschuss, dass ich die Kultur meines Volkes nicht aufnehmen konnte, denn mein Vater war früh verhaftet worden und meine Mutter war eine Ukrainerin…

Wir verabschiedeten uns von Alexandra Alexandrowna nach einem vierstündigen Gespräch über ihr Leben. Es war kein einfaches Leben, voller Verbitterung und Verluste. Die ganze Geschichte ist für mich sehr interessant, aber am erstaunlichsten war die Tatsache, dass Alexandra Alexandrowna während des Krieges als Volksdeutsche aus dem sowjetischen Territorium fortgebracht wurde und jetzt, im 21. Jahrhundert, sagt man, dass sie gar keine Deutsche sei… Ist so etwas möglich?

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