Man kann es Ritual nennen oder auch nicht, jedenfalls hat die jährliche Botschaft des Präsidenten Nursultan Nasarbajew an sein Volk uneingeschränkten Grundsatzcharakter und wird deshalb von einer ganzen Reihe von Interessierten jedes Jahr mit großer Spannung erwartet.

Natürlich sind zuerst die Staatsdiener gemeint, die hier erfahren, wohin das politische Schiff in diesem Jahr steuert und auf welche Schwerpunkte und Schlagworte, sie sich einstellen müssen. Letzteres geht dann immer ziemlich schnell, auch wenn nicht immer der Inhalt neuer Begriffe verstanden wird. Aber auch die Vertreter der ausländischen diplomatischen Missionen erwarten diese Rede mit großem Interesse, die Parlamentsabgeordneten der Einheitspartei Nur Otan sowieso: schließlich müssen sie dann für eine Reihe der verkündeten Vorhaben noch einheitlich die Hand heben.

Wohltuend im Unterschied zu den Botschaften der vergangenen Jahre ist in diesem Jahr aufgefallen, dass es ziemlich konkret zuging und die großen Schlagworte, mit denen die Reden der vergangenen vier, fünf Jahre immer gespickt waren, diesmal gefehlt haben. Das ist positiv zu bewerten. Der Kern der diesjährigen Rede war der soziale Bereich und stand unter der Losung „Wachstum des Wohlstandes ist das Hauptziel der staatlichen Politik“. Nach den Schwerpunkten der vergangenen Jahre wie Cluster, Wettbewerbsfähigkeit oder Wissensgesellschaft, ist damit klar das Ziel und nicht, wie früher, das Mittel angesprochen.
Zwar eher am Ende, aber immerhin, wurde auch die Bildung thematisiert. Das, was man im Lande schon lange spürt, wurde nun auf oberster Ebene ausgesprochen und ist damit offizielle Wirklichkeit: technisch gebildete Fachkräfte fehlen in großer Zahl, was mittlerweile die wirtschaftliche Entwicklung messbar zu bremsen beginnt. Der anvisierte und schon offiziell verkündete Übergang zum 12-Klassen-Schulsystem ist im Moment nicht realisierbar, weil es an Schulen, Lehrern und Lehrmaterial fehlt. Das ist ein bemerkenswertes Eingeständnis, war doch dieses Projekt in der Vergangenheit zwar schon umstritten, aber dennoch mit hoher Priorität versehen. Was nun wird, ist offen. Ob das undifferenzierte 12-Klassen-System für alle Kinder sinnvoll ist, ist ohnehin zu bezweifeln. Schließlich sind die Schüler in ihrer Entwicklung unterschiedlich, und nach wie vor sind nicht nur höchste, sondern eben differenzierte Bildungsabschlüsse notwendig. Man kann bei jungen Menschen viel Schaden anrichten, wenn man von ihnen etwas erzwingen will, was sie nicht leisten können.
Auch das finanzielle Füllhorn hat der Präsident ausgeschüttet. Das wird ja immer noch vorwiegend als Sozialpolitik verstanden, was aber nicht der Schwerpunkt sein sollte. Jedenfalls sollen die Renten und die Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst in den nächsten Jahren rasch wachsen: in den nächsten zwei Jahren jeweils um 25 Prozent und dann noch mal um 30 Prozent. Das ist eine enorme Steigerung, die sowohl den Rentnern als auch den Angestellten nur zu gönnen ist. Dabei stellt sich aber sofort die Frage der Finanzierung. Schon bei einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von jährlich etwa 10 Prozent in den vergangenen Jahren waren die damals benötigten Finanzmitten nicht so ohne weiteres zu beschaffen. Da derzeit nicht nur die Weltwirtschaft, sondern auch die Volkswirtschaft Kasachstans zu lahmen beginnt, ist es ein politisches Risiko, dieses Versprechen so weit im Voraus abzugeben.

Ein weiteres Problem ist die Inflation. Nicht erst die anstehende Einkommenssteigerung, sondern auch schon ihre Ankündigung wird die Inflation weiter in die Höhe treiben: es wird eine klassische Nachfrageinflation in Gang gesetzt, die Kasachstan wohl noch schwer zu schaffen machen wird. Der Nationalbankchef wird sich sicher schon seine Gedanken gemacht haben, schließlich hat Nasarbajew auf die Notwendigkeit straffer Inflationsbekämpfung hingewiesen. Die drastische Einkommenssteigerung für mehrere Millionen Menschen weit über die volkswirtschaftliche Produktivitätssteigerung hinaus und die gleichzeitige Bekämpfung der Inflation sind zwei hochgesteckte Ziele. Ihre Umsetzung kommt dem nahe, was man aus dem bekannten russischen Sprichwort von den zwei Hasen kennt, denen man zugleich hinterherjagt: Die Gefahr ist groß, dass man keinen der beiden Hasen fängt, denn die richten sich bekanntlich nicht unbedingt danach, was der Jäger so will.

Bodo Lochmann

15/02/08

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