Die europäische Idee befindet sich im Moment zweifelslos in einer Krise, in ihrer wohl schwersten Belastungsprobe seit Beginn der europäischen Einigung nach dem zweiten Weltkrieg. Es ist bisher nicht gelungen, die Kluft in der wirtschaftlichen Entwicklung der EU-Staaten signifikant abzubauen, eine wirklich gemeinsame Wirtschafts- und Finanzphilosophie ist noch nicht erreicht und scheint im Moment in weiterer Ferne denn je. Die Wirtschaft in China und Indien, in Brasilien und der Türkei brummt relativ unbeeindruckt von den europäischen Turbulenzen, die Musik spielt im Moment also eindeutig weit weg vom alten Europa. Und dennoch kann Europa Asien und andere Regionen der Welt mit seinem Beispiel inspirieren, auch wenn ein Kopieren des europäischen Weges natürlich weder notwendig noch sinnvoll ist.

In den vergangenen zweihundert (200) Jahren war Europa der erfolgreichste Kontinent auf Erden. Das wird wohl nicht so bleiben. Dennoch gibt es einige zentrale Gaben, die das kleine Europa der großen Welt geschenkt haben. Da ist zuerst die Friedenkultur zu nennen. Die größte zivilisatorische Leistung Europas ist, dass trotz aller in vielen Fragen gegebenen Meinungsunterschiede diese auf dem Weg der Diskussionen, der Verhandlungen, der Kompromisse beseitigt werden. Früher genügte oft ein kleiner Anlass für das Auslösen kriegerischer Handlungen. Nicht selten wurde dieser gefunden, weil er gefunden werden sollte. Zwar gibt es im Moment keine größeren kriegerischen Aktionen zwischen den asiatischen Hauptstaaten; eine Vielzahl von Spannungen und lokaler militärischer Konflikte gibt jedoch immer wieder Anlass zur Beunruhigung. Das Studium der europäischen Friedenskultur könnte Asien helfen, auch ohne die bitteren Erfahrungen zweier verheerender Kriege den Pfad der absolut friedlichen Regelung aller Streitfragen zu gehen. Im Zeitalter modernster Massenvernichtungssysteme, bei deren Einsatz meist mehr Zivilisten als Soldaten ums Leben kommen, verstehen die Europäer den inneren Wahnsinn eines Krieges nur allzu gut.

Die zweite Erfahrung Europas ist die der Kooperation. Wettbewerb und Kooperation werden nicht als zwei sich prinzipiell ausschließende Antipoden verstanden, sondern als sich ergänzende Elemente. Das praktizierte europäische Kooperationsmodell ist zweifelsohne nicht frei von Konstruktionsfehlern. Das zeigen klar die gegenwärtigen Probleme im europäischen Geld- und Finanzsystem. Bei der Bewertung dieser Mängel ist jedoch zu bedenken, dass es sich hier um einen historisch bisher einmaligen Vorgang handelt. Nicht weniger als 27 teils sehr unterschiedlich entwickelte Staaten haben sich freiwillig und bewusst entschieden, auf wesentliche Teile ihrer nationalen Souveränität zu verzichten und ihr Schicksal gemeinsamen Institutionen anzuvertrauen. Die Abgabe von Souveränitätsrechten schon bald nach dem zweiten Weltkrieg ist umso bemerkenswerter als viele Staaten diese Souveränität gerade erst wiedergewonnen hatten.

Nicht zuletzt hat Europa der Welt die Möglichkeit des Ausgleichs sozialer Ungleichheiten praktisch demonstriert. Die sozial orientierte Marktwirtschaft als Grundlage einer Gesellschaft des Mitgefühls und der politischen Stabilität ist für viele Länder ein erstrebenswertes Modell möglicher eigener Entwicklung. Die Europäer haben soziale Sicherheitsnetze geschaffen, die jene schützen, welche sich aus objektiven Gründen nicht selbst behaupten können. Nur wenige Staaten Asiens haben Vergleichbares vorzuweisen, die wirtschaftlich wichtigsten Staaten Asiens, also China und Indien, gehören nicht dazu.

Europa ist also keinesfalls perfekt, aber in vieler Hinsicht führt es die Welt an und kann durchaus als Beispiel für die Bündelung zersplitterter und damit begrenzter Potentiale dienen.

Bodo Lochmann

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