Der deutsche Geologe Gottfried Merzbacher erforschte vor mehr als hundert Jahren das Tienschan-Gebirge. Ziel seiner Reise war es, die genaue Lage des Khan Tengri – Kasachstans höchster Berg – zu ermitteln. Auf dem Weg zum Khan Tengri entdeckte Merzbacher einen See, der heute seinen Namen trägt.

/Bild: Marat Ixanow. ‚Der Khan Tengri – ein Zauberberg, den man, so Merzbacher, von überall her erblicken, aber nicht erreichen kann.’/

Im Sommer 1903 ist Gottfried Merzbacher schon das zweite Jahr im  Tienschan in Zentralasien unterwegs. Gemeinsam mit dem deutschen Ingenieur Hans Pfann, dem Bergführer Franz Costner und Hans Keidel, einem Geologen, hat er sich vorgenommen, das „Himmelsgebirge“, wie der  Tienschan von den Chinesen genannt wird, genauer zu erkunden.
In seinem späteren Reisebericht bezeichnet Merzbacher die Reise als „Jagd nach einem verzauberten Berg, den man von überall her erblickt, aber nicht erreichen kann“. Dieser Zauberberg ist der Khan Tengri, der nördlichste Siebentausender der Erde, den Merzbacher noch auf eine Höhe von 7.200 Metern schätzt. Tatsächlich ist der Khan Tengri allerdings nur 7.010 Meter hoch.

Das Ziel von Merzbachers Reise ist es, die genaue Lage des Khan Tengri zu ermitteln. Denn in den russischen Karten – den einzigen, die es zur Jahrhundertwende von dem Gebiet gibt – ist der Berg falsch eingezeichnet.

Der Zugang zum Khan Tengri erweist sich als schwierig. Mehrfach scheint es dem deutschen Forscher, dem Berg ganz nahe zu sein. Doch immer wieder tun sich neue Täler oder Bergrücken vor ihm auf, die den Weg versperren.

Extrem-Bergsteigen vor hundert Jahren

Zudem leidet Merzbachers Expedition unter den schwierigen Bedingungen. „Von allen Hochgebirgen der Erde sind wohl die zentralasiatischen – also auch der  Tienschan – die am schwersten zugänglichen“, schreibt Merzbacher. Mit den Alpen, selbst mit dem Kaukasus sei dies nicht zu vergleichen. Er erforsche hier Gletscher, „die zu den größten kontinentalen Eisströmen gerechnet werden müssen“.

Merzbacher geht den  Tienschan aus westlicher Richtung an und durchkreuzt ihn, bis er in China landet. Riesige Blockgletscher – mit Felsblöcken und Schutt überlagertes Eis – versperren der Expedition häufig den Weg. Sie zu überqueren, verlangt der gesamten Mannschaft das Äußerste ab.

Die Kirgisen, die er als Träger engagiert hat, erweisen sich trotz der von Merzbacher gesponserten Ausrüstung – genagelte Schuhe, Steigeisen, Schneereifen, Eispickel – als unerfahren bei der Überquerung der Gletscher. Als Nomaden seien sie zum einen gewohnt, stets zu reiten, anstatt zu Fuß zu gehen, andererseits hätten sie nie den Grund, sich im schwierigen Hochgebirge zu bewegen.

Mehrmals stürzen Träger und Pferde auf Geröllhalden oder bei Flussdurchquerungen, kostbare Ausrüstungsgegenstände gehen verloren. Im ersten Jahr der Expedition verliert Merzbacher 60 belichtete Fotoplatten, weil sich die Blechkisten bei einem Sturz ins Wasser als undicht erweisen.

Das Ziel vor Augen

Dennoch behält Merzbacher sein Ziel, den Khan Tengri, im Auge. Und im Sommer 1903 scheint er ihm nahe wie nie zuvor. Er ist den insgesamt 75 Kilometer langen Inyltschek-Gletscher hinaufgestiegen, an dessen Ende er den Fuß des Khan Tengri vermutet.

Etwa drei Kilometer vom Ende der Gletscherzunge aufwärts teilt sich der Inyltschek in zwei Eistäler, die durch einen riesigen Felsgrat voneinander getrennt sind. Merzbacher entscheidet sich für den linken, nördlichen Strang und steigt hier weiter hinauf.

„Dort standen wir plötzlich vor einer weiteren Senkung, ausgefüllt von einem riesigen Eissee, aus dessen tiefblauen Fluten Tausende kleiner, mannigfaltig geformter Eisberge und Schollen herausragten. Ein prachtvoller Anblick!“, schreibt Merzbacher. Doch die Freude währt nicht lange.

Der See versperrt das Tal, ein Vorbeikommen ist nicht möglich. „So lag denn das lang ersehnte und schwer umkämpfte Ziel nunmehr verheißungsvoll nahe und konnte dennoch nicht erreicht werden.“

Unbeirrt kämpft sich Merzbacher jedoch auch den zweiten Gletscherstrang hinauf und gelangt schließlich tatsächlich an den Fuß des Khan Tengri. „Nicht die geringste Vorlagerung verdeckte mehr etwas von dem so lange geheimnisvoll versteckten Fuße des Bergs. Unmittelbar an seinem Südfuße befand ich mich und betrachtete staunend, bewundernd, forschend die ungeheure Gestalt. Die Spannung der letzten Wochen, die in den letzten Tagen bis zur Unerträglichkeit gesteigert war, löste sich nun mit einem Male. Das mit aller Kraft des Denkens und Wollens erstrebte Ziel war erreicht.“

Wie Merzbacher in Vergessenheit geriet

Mit seiner Expedition zum Khan Tengri hatte sich Merzbacher endgültig als ernstzunehmender Forscher etabliert. Ohne akademische Laufbahn, als gelernter Kürschner und Pelzhändler, war der Alpinismus für den 1843 geborenen Merzbacher lange Zeit lediglich Erbauung in seiner Freizeit gewesen.

Im Jahre 1888, nach 20 Jahren als Kaufmann, hatte er jedoch sein Pelzwarengeschäft in München verkauft und sein Vermögen von da an in seine eigentliche Leidenschaft gesteckt.
Er selbst betrachtete den Alpinismus als einen „unentbehrlichen Faktor menschlicher Lebensbetätigung und Geisteskultur, da er einen Ausgleich zwischen überfeinerter Kultur und Hinneigung zur Natur herbeiführt.“ Damit stand Merzbacher in der Tradition vieler Forscher des angehenden neuen Jahrhunderts: Sie verbanden das bürgerliche Vergnügen der Bergbesteigungen mit wissenschaftlichem Erkenntnisdrang.

Der Erkundung des  Tienschan vorausgegangen war eine Reise in den Kaukasus in den Jahren 1891 und 1892. Von dort brachte Merzbacher präzise Vermessungsergebnisse mit und veröffentlichte daraufhin die nach ihm benannte „Merzbacher-Karte“, eine erstmalige Kartierung der von ihm bereisten Regionen im Kaukasus.

Die Karte und sein Reisebericht korrigierten zahlreiche Irrtümer und Fehler, woraufhin ihm von der Philosophischen Fakultät der Universität München die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Nach der Reise in den  Tienschan wurde er sogar zum Königlichen Professor h.c. berufen.
In den Jahren 1907 und 1908 machte er sich, mit bereits 64 Jahren, erneut auf nach Zentralasien und erkundete diesmal den chinesischen Teil des  Tienschan.

Zentralasien-Kenner mit politischem Handikap

Noch zu Lebzeiten galt er als einer der besten Zentralasien-Kenner. Bis kurz vor seinem Tode im Jahr 1926 arbeitete er an einer Karte des zentralen  Tienschan im Maßstab 1:100.000, die später sowjetischen Kartographen als Grundlage diente.

Trotz seiner Verdienste geriet Merzbacher in Vergessenheit. Seine umfangreiche Asien-Bibliothek ging in den Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek über. Zoologische Fundstücke wie Felle, Gehörne oder Schädel von Steinböcken oder Wildschafen übernahm die Zoologische Staatssammlung. Allerdings übereignete Merzbacher seine Sammlungen nicht freiwillig. Die Inflation der 1920er Jahre hatte ihn um sein Vermögen gebracht, und so war er mehr oder weniger gezwungen, die Kostbarkeiten an den Bayerischen Staat zu verkaufen.

Der deutsche Alpenverein verschwieg in den folgenden Jahren sein langjähriges Mitglied Merzbacher. Aufgrund des so genannten „Arierparagraphen“ wurden mit Beginn des Nationalsozialismus alle jüdischen Mitglieder ausgeschlossen. Ein Interesse, weiter an den Juden Merzbacher und seine Verdienste zu erinnern, bestand nicht.

Dennoch hat Merzbacher zumindest international Anerkennung erhalten. So wurde eine Bergkette im chinesischen  Tienschan nach ihm benannt. Und der See auf dem Inyltschek-Gletscher, der ihm einst den Weg zum Khan Tengri versperrte, wurde drei Jahre nach seinem Tod von russischen Alpinisten auf Merzbacher-See getauft.

Von Edda Schlager

05/06/09

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