Multikulturalität als Chance sehen – Natalie Pawlik im Interview

Natalie Pawlik folgte im April dieses Jahres auf Bernd Fabritius als Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Sie selbst kam als junges Mädchen einer Spätaussiedlerfamilie aus Russland nach Deutschland. Erstmals ist das Gesicht dieses Amtes ein weibliches, gleichzeitig noch das einer Angehörigen einer der Gruppen, die sie vertritt.

Mitte September nahm sie am zwölften Kongress der Deutschen Kirgisistans in der Landeshauptstadt Bischkek als Vertreterin der deutschen Bundesregierung teil. Wir haben mit Frau Pawlik über ihre Familiengeschichte und politische Karriere gesprochen.

Frau Pawlik, was hat die Bildung ihrer Persönlichkeit beeinflusst? Ihre Herkunft, oder Ihr Umfeld? Wie würden Sie sich selbst in drei Worten beschreiben?

Meine Persönlichkeit ist durch meinen Lebensweg und meine Erfahrungen geprägt. Darin spielt natürlich die Geschichte meiner Familie und meiner Vorfahren eine Rolle, aber auch meine Kindheit in Sibirien, unsere Aussiedlung nach Deutschland und meine Kindheit und Jugend in Hessen. Besonders prägend war für mich natürlich auch die Bildung, die ich genossen habe. Ich würde mich selbst als hartnäckig, aktiv und freundlich bezeichnen.

Wie schwer war es für Sie und Ihre Familie, sich in Deutschland anzupassen? Welche Schwierigkeiten haben Sie erlebt?

Ich bin im März 1999 gemeinsam mit meiner Familie von Sibirien nach Deutschland ausgesiedelt. Wir kamen in einer neuen Gesellschaft an, mit einem neuen System, und natürlich auch mit einer neuen Sprache. Um uns herum waren plötzlich neue Menschen, das war sehr ungewohnt. Natürlich hatten wir Schwierigkeiten und Hürden, die auch andere Spätaussiedler überwinden mussten. Wir verbrachten viele Wochen in Friedland, der Erstaufnahmestation für Spätaussiedler, bis wir dann anschließend in ein Aussiedlerwohnheim kamen, in welchem wir zu viert in einem Zimmer gelebt haben.

Meine Eltern hatten, wie viele andere auch, Probleme ihre Ausbildungen anerkennen zu lassen. Nicht zuletzt war die Sprache eine Hürde. Für mich als Kind war es natürlich einfacher, eine neue Sprache zu lernen, anders als für ältere Generationen.

Natalie Pawlik im Gespräch mit den DAZ-Korrespondentinnen Yekaterina Loychenko und Annabel Rosin

Man wurde natürlich auch nicht immer mit offenen Armen empfangen, denn es gab sehr viele Vorurteile gegenüber den Deutschen aus Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Gegen all das musste ich natürlich auch ankämpfen. Wir hatten jedoch Glück, dass bereits Teile meiner Familie vor Ort waren und uns helfen konnten. Auch durch zivilgesellschaftliche Institutionen, die Kirchen und soziale Vereine haben wir Unterstützung erfahren. Das Bildungssystem in Deutschland ist leider immer noch sehr abhängig von der familiären Herkunft. Das musste ich auch erleben und lernen. All das war wirklich nicht leicht, aber ich würde sagen, dass wir das als Familie gut gemeistert haben.

Was ist Ihrer Meinung nach unumgänglich für eine erfolgreiche Integration in Deutschland? Welche Probleme haben Spätaussiedler, die sich auch in der heutigen Zeit noch dazu entscheiden, nach Deutschland umzusiedeln?

Das Wichtigste ist, dass man nie aufgibt. Die Hürden scheinen in manchen Momenten unüberwindbar, aber man muss immer wieder aufstehen und weitermachen. In unserer Gesellschaft gibt es trotz alledem gute Chancen für Menschen, die zu uns kommen. Dies hat sich seit den 90er-Jahren Gott sei Dank auch sehr verbessert. Für eine erfolgreiche Integration finde ich es wichtig, gerade diese Chancen zu nutzen, und ein Teil der Mehrheitsgesellschaft zu werden, sich zu vernetzen, und sich nicht von den anderen abzukoppeln.

Wie kann man in unserer heutigen Welt seine deutsche Identität und die deutsche Sprache in Ländern wie Kirgisistan und Kasachstan bewahren?

Durch Lernen. Durch die Teilnahme an den Projekten in den Siedlungsgebieten, die wir ja auch als Bundesministerium des Innern und für Heimat unterstützen. Jeder Mensch, der etwas erreichen will, muss auch etwas dafür tun. Das gilt natürlich auch für die Deutschen, die hiergeblieben sind. Das Bewahren der ethnischen Identität und der Muttersprache kommt nicht von selbst.

Erzählen Sie etwas über sich und Ihre Familie. Welche Traditionen machen Ihre Familie aus? Was ist bei Ihnen Deutsch, und was haben Sie aus der Sowjetunion adaptiert?

Ich schaue sehr gerne alte sowjetische Filme und höre sehr gerne russischsprachige Musik. Das Essen ist bei uns an Feiertagen auch oft russisch, da kochen wir als Familie immer gemeinsam. Wir reden trotzdem sehr viel Deutsch, aber auch oft gemischt mit der russischen Sprache. Ich würde sagen, wir haben so eine „Deutsche aus Russland“-Identität. Wir sind eben nicht nur Russisch und nicht nur Deutsch. Diesen Mix macht aus, dass wir ihn auch leben. In der Sprache, in der Kultur und in unserem Umfeld.

Sehen Sie es als Vorteil, wenn man bilingual aufwächst?

Definitiv ja. Ich möchte auch meinen Beitrag dazu leisten, dass das als etwas Positives in unserer Gesellschaft angesehen wird. Auch die Unterschiede in den Reaktionen, wenn jemand eine Fremdsprache kann, finde ich teilweise sehr schade. Englisch beispielsweise wird immer sehr positiv gewertet, auf das Russische oder andere Sprachen reagieren viele oft diskriminierend und abweisend. Dass jemand das ‚R‘ rollt, wollen manche nicht hören. Ich glaube, das ist etwas, worin uns als Gesamtgesellschaft unglaublich viel Potential verloren geht. Migrationserfahrungen, das Aufwachsen in zwei Kulturen und zweisprachigen Haushalten muss als etwas ganz Positives begriffen werden. Dies öffnet uns letztendlich Türen in die weite Welt, was in der heutigen globalisierten Gesellschaft unumgänglich ist. Ich würde gerne dazu aufrufen, dass diese Chancen mehr genutzt werden.

„Die Welt ist ein Ort, an dem es für jeden eine Rolle gibt“ – lautet ein Zitat der Autorin Cornelia Funke. Was denken Sie, was ist Ihre Rolle in der heutigen Welt, vor allem in der
Politik?

Ich bin die direkt gewählte Bundestagsabgeordnete aus meinem Wahlkreis, der hessischen Wetterau. Ich engagiere mich seit meinem 15. Lebensjahr politisch für unterschiedliche Themen. Darin sehe ich auch meine Rolle: dazu beizutragen, dass wir unsere Gesellschaft besser machen. Dass wir vorwärts gehen, in eine gute Zukunft. Und ich bringe meine persönliche Perspektive ein, im Sinne einer echten Vertretungsstimme für Deutsche aus Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ich möchte, dass die Anliegen in der Politik Gehör finden. Dass man weiß, dass es noch immer deutsche Minderheiten in den Siedlungsgebieten gibt und warum wir als Bundesregierung da auch weiterhin Verantwortung tragen müssen.

Gleichzeitig bin ich auch im Ausschuss für Arbeit und Soziales tätig, in dem ich ganz konkret diesen Bereich der Politik gestalten will. Dieses Zusammenspiel macht meine Gesamtrolle aus.

Was wünschen Sie sich für die weitere Zusammenarbeit Deutschlands mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion? Wie sehen Sie die nächsten Jahre Ihrer Arbeit als Beauftragte für Spätaussiedlerfragen?

Ich persönlich habe einen großen Schwerpunkt auf die Förderung der Jugendarbeit gelegt. Es ist wichtig, dass die junge Generation der deutschen Minderheit ihre Familiengeschichte versteht und lernt, damit umzugehen. Ich möchte die Projekte unterstützen, die sich mit der Sprachförderung, dem Dialog und Austausch von Jugendlichen, sowie kulturellen und sportlichen Angeboten für Jugendliche beschäftigen.

Wir haben die Erlebnisgeneration, die uns natürlicherweise irgendwann abhandenkommt. Wir müssen dafür sorgen, dass deren Geschichte weitergetragen wird und in den nächsten Generationen eine Perspektive hat. Geschichte ist wichtig, um die Gegenwart zu verstehen, um dann im Anschluss positive Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

Ich hoffe, dass die Zusammenarbeit Deutschlands und Kirgisistans sich verstärkt und vor allem auch jungen Menschen zugutekommt. Wir sind immer dann stärker, wenn wir zusammen und nicht gegeneinander arbeiten. Daher ist es mir ein wichtiges Anliegen für die Zukunft, das Zusammenwachsen und die Dialoge beider Länder zu fördern. Auch die Brücke, die die Minderheit in Kirgisistan und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu unserer Gesellschaft in Deutschland schlägt, möchte ich weiterhin aufrechterhalten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Annabel Rosin

Fragen: Marina Angaldt

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