Am 1. August 2008 lässt sich im Großraum Almaty eine Sonnenfinsternis beobachten. Der Mond wird sich zwischen Erde und Sonne schieben und die Stadt verdunkeln. Vor knapp sechzig Jahren führte dieses Schauspiel zur Gründung eines Observatoriums in Almaty. Wer heute diese Sternwarte besucht, lernt nicht nur das Universum kennen.
/Foto: DAZ/
Albert Einstein hat einmal gesagt, das Unverständlichste am Universum sei im Grunde nur, dass wir es verstehen wollen. Wer das Mysterium des Lebens begreifen möchte, muss seinen Blick auf die Sterne richten. Eine gute Gelegenheit dazu bietet ein Observatorium in Almaty, das in 1500 m Höhe über der Stadt liegt. Fern von städtischen Reklamelichtern und dem Smog der Autos gewährt die Sternwarte Forschern und Besuchern schon seit 58 Jahren den Ausblick auf die Phänomene des Weltalls.
Die Geschichte des Observatoriums begann am 21. September 1941, als eine Sonnenfinsternis in Alma-Ata den Tag zur Nacht machte. Eine Delegation aus Moskau reiste damals an, um das seltene Schauspiel zu beobachten. Unter den Mitgliedern der Gruppe befand sich auch eine Koryphäe der sowjetischen Astronomie: Wassili Fessenkow. In den schweren Zeiten des Zweiten Weltkrieges fand Fessenkow genügend Mittel, um auf dem Kamenskoje Plateau bei Almaty das astrophysikalische Institut, das heute seinen Namen trägt, zu gründen. Im Jahre 1950 folgte auch das Observatorium, das japanische Kriegsgefangene gebaut hatten und das mit den für die damalige Zeit modernsten Teleskopen ausgestattet wurde.
Fessenkow versammelte um sich herum eine Gruppe junger Astronomen, die innerhalb weniger Jahre die Sternwarte zu einem der wichtigsten Observatorien der Sowjetunion machten. Die Wissenschaftler fokussierten sich und ihre Teleskope vor allem auf die rätselhaften Nebelfelder aus Gas- und Staubwolken, die ihr schwaches Leuchten nur bei sehr langer Belichtungszeit offenbarten. Bereits nach einem Jahr Forschung veröffentlichte das Observatorium den weltweit ersten Nebelatlas des Universums. Heute weiß man, dass die Nebel sich mit der Zeit zu Sternen verdichten und diese, wenn sie ihre Energie verbraucht haben, oft wieder zu Sternenstaub zerfallen.
Das Universum für wenig Geld
Heute ist das Observatorium selbst zu einem erloschenen Stern geworden. Der Glanz vergangener Tage ist weg, und aus dem einstigen Riesen der Wissenschaft ist ein kleiner akademischer Zwerg geworden. Eine Gruppe aus 40 Wissenschaftlern ist geblieben. Sie beobachten nach wie vor das Weltall und öffnen hin und wieder die Tore des Instituts für Besuchergruppen. Wer den Smog und den Stress der Stadt hinter sich gelassen und den Weg auf das Kamenskoje Plateau gefunden hat, bekommt für wenig Geld das ganze Universum geschenkt oder zumindest den Teil, den man in einer wolkenfreien Nacht durch die vier Teleskope des Observatoriums beobachten kann.
Ljubow Schestakowa arbeitet seit 33 Jahren in der Sternwarte und hat schon so manche Nacht mit den Sternen allein verbracht. Bei ihren Rundgängen über das Observatoriumsgelände führt sie die Besucher zu einer Allee, die genau am 77. Längengrad ausgerichtet ist. Weil die Zahl Sieben im Orient wie im Okzident als magisch gilt, entstand hier der Brauch, sich beim Spaziergang über die Allee etwas zu wünschen. Ob es in Erfüllung geht, steht in den Sternen. Für viele erfüllt sich aber bereits ein Traum, wenn sie von Schestakowa auf das offene Dach des Teleskophäuschens geführt werden und sich vor ihnen die Kraterlandschaft des Mondes im Okular wie ein überdimensionaler Pfannkuchen ausbreitet.
Mit 60 cm Durchmesser gehören die Carl-Zeiss-Linsen der Teleskope schon lange nicht mehr zu den größten der Welt. Die modernen Spiegelteleskope mit mehreren Metern Durchmesser fangen heutzutage das Licht von Galaxien ein, die Millionen von Lichtjahren entfernt sind. Aber wer durch die altgedienten Fernrohre die Ringe des Saturns oder die Jupitermonde zum ersten Mal zu sehen bekommt, kann sich der Faszination des Universums kaum entziehen.
Gelegentlich wird Schestakowa bei ihren Führungen gefragt, ob man im Observatorium einen Stern kaufen kann. Viele, die in der Stadt für wenige Wohnquadratmeter astronomische Preise zahlen, würden es gern andersrum probieren. Doch das Berufsethos verbietet den Astronomen diesen Handel. „Mit Wissenschaft hat so etwas nichts zu tun“, sagt Schestakowa. „Und von da aus wäre es auch nicht mehr weit bis zur Astrologie und dem übrigen Hokuspokus“, fügt sie hinzu.
„Unsere Wissenschaft wird systematisch erstickt“
Schestakowa betreut nun seit über zehn Jahren die Observatoriumsbesucher. Den Impuls dazu gab einmal mehr die Natur selbst. Im Jahre 1997 hing der Komet „Hale Bob“ monatelang am nächtlichen Himmel, und viele Menschen riefen im Observatorium an und fragten, ob sie den Himmelskörper durch ein Teleskop anschauen könnten. Schestakowa erklärte sich sofort bereit, die Besucher zu begleiten. Doch es war nicht der bescheidene Nebenverdienst, der die Wissenschaftlerin antrieb. „Ich begriff damals, dass es die letzte Chance war, etwas für das Überleben der Wissenschaft zu tun“, erzählt sie. In den akademischen Nachwuchs konnte man in den Neunzigern keine Hoffnungen mehr setzen, und leider habe sich daran bis heute nichts geändert. Welcher Wissenschaftler würde schon für einen Monatslohn von 90 Euro ins Observatorium kommen, um sich der Astronomie zu widmen. „Und die, die heute tatsächlich kommen, können nicht einmal das Einmaleins“, sagt Schestakowa. „Unsere Wissenschaft wird zurzeit systematisch erstickt. Von den 40 übrig gebliebenen Mitarbeitern des Observatoriums steht fast jeder für sein eigenes spezielles Teilgebiet der Forschung. Verlässt ein Mitarbeiter das Institut, ohne seinen Erfahrungsschatz an einen fähigen Nachfolger weitergegeben zu haben, wirft es die ganze Wissenschaft auf Jahre zurück.“ Diese Schlacht hält Schestakowa schon längst für verloren. Darum setzt sie auf die Besuchergruppen. „Ich freue mich besonders, wenn Kinder dabei sind, und versuche bei ihnen die Faszination für die Sterne zu wecken, in der Hoffnung, dass sie eines Tages der Astronomie helfen, auf die Beine zu kommen“, sagt sie. „Aber es wird schon ein neuer Fessenkow sein müssen“, fügt sie etwas resigniert hinzu.
Sternenliebe trotz gebrochener Nase
Dass Schestakowa auf Kinder setzt, kommt nicht von ungefähr. Als sie mit acht Jahren einmal auf dem Eis spielte, zeigte ihr jemand den Mars. Sie schaute nach oben, rutschte aus und brach sich die Nase. Irgendwann war die Nase verheilt und geblieben war nur das Interesse für die Himmelskörper. Heute nähert sie sich ihrer Rente, ihre Karriere ist vorbei, und sie erlaubt sich den Luxus, die Dinge beim Namen zu nennen. „Die Akademie der Wissenschaften hat ihre Kompetenzen weitgehend an das Bildungsministerium abgegeben“, erklärt sie. „Über die Forschung entscheiden nun Beamte, die die wissenschaftlichen Institutionen nach marktwirtschaftlichen Modellen umkrempeln. Unser astrophysikalisches Institut ist heute eine Tochtereinrichtung der übergeordneten Mutterorganisation ’RGP’, die wiederum dem Ministerium unterstellt ist. Man plant, aus uns eine GmbH zu machen.“ Was das sein soll, wisse sie nicht, aber so gehe man mit Töchtern nicht um.
Früher blühten hier Apfelgärten, doch auch diese Zeiten sind nun vorbei. Stattdessen ist das Observatorium heute von neuen Villen mit meterhohen Mauern umzingelt. Die neuen reichen Nachbarn sind nicht unbedingt an Sternen interessiert. Viel lieber sehen sie von oben auf die schimmernden Lichter der Großstadt herab und atmen die saubere Bergluft. Schestakowa lässt das kalt. Sie hat sich damit abgefunden. „Die Menschen sind blinder und schwerhöriger geworden. Internet und Fernsehen rauben ihre ganze Aufmerksamkeit, so dass die Natur nun kräftiger anklopfen muss, um sie wachzurütteln“, sinniert sie.
Den Beweis dafür liefere die Natur selbst. Von 2006 bis 2012 lässt sich in Almaty gleich sechs Mal eine Sonnenfinsternis beobachten – die nächste am 1. August dieses Jahres. Daran, dass die Menschen danach anfangen, sich wieder stärker der Astronomie zuzuwenden, glaubt Schestakowa allerdings nicht. Vielleicht ist es auch besser so. Für die gelegentlichen Besucher bleibt mehr von himmlischen Mysterien übrig.
Telefonnummer für Führungen und Beobachtungen: +7 727 260 74 57
Von Anton Markschteder
22/02/08