Nach der Reise per Anhalter durch Kasachstan wird die Serie über einen Ausflug der DAZ-Autoren Angela Lieber und Mathias Fritsche mit Geschichten aus Balchasch fortgesetzt. Die kleine Stadt am gleichnamigen See ist geprägt von den Gegensätzen zwischen einmaliger Natur und allgegenwärtiger Großindustrie. Eine Mischung, in die sich ein Hauch deutscher Geschichte ergießt.
Dunkle Rauchschwaden aus riesigen Schornsteinen hängen über der Stadt und sind schon von weitem aus der Steppe zu sehen. Die dicken grauen Wolken lenken die Aufmerksamkeit auf sich und lassen schon fast vergessen, woher die Hauptstadt der kasachischen Kupferindustrie – Balchasch – ihren Namen hat, von einem der größten Seen des Landes, dem gleichnamigen Balchasch-See. Nur wenige Meter vom Zentrum der Kleinstadt entfernt, an einem feinkörnigen, gelben Sandstrand, erstreckt sich das Binnengewässer in seiner vollen Breite. Entlang der weitläufigen Bucht befinden sich Schiffsanlegeplätze, Badestellen und eine kleine Werft. Am Horizont zeichnet sich im gleißenden Sonnenlicht eine kleine Insel ab. Es ist kalt, und wie Puderzucker auf einem Kuchen liegt eine dünne Schneeschicht auf dem komplett zugefrorenen See. Nur vorsichtig, auf das Geräusch brechenden Eises wartend, begeben wir uns auf den Balchasch, zu angsteinflößend sehen die riesigen Risse aus. Die Bedenken weichen nach einigen Schritten, als wir die meterdicke Eisschicht sehen, glasklar und faszinierend schön, an einer Stelle, die der Wind vom Schnee befreit hat. Weiter in Richtung See laufend, begegnet uns nach gut einer Viertelstunde der Rentner Juri. Zielstrebig eilt er in seiner dick gefütterten, gelben Steppjacke mit passender Hosen und Handschuhen an uns vorbei. Die hohen Filzstiefel hinterlassen breite Abdrücke in der dünnen Schneeschicht.
Die 60er Jahre in Dresden
In seiner Hand hält Juri einen riesigen Bohrer, und auf den Schultern trägt er einen großen, grau-grünen Rucksack. Nur flüchtig grüßend, geht er an uns vorbei. Dabei erkennt man das Gesicht nur kaum hinter seiner dicken Fellmütze, die weit über beiden Ohren hängt. Neugierig geworden durch die für uns nicht alltägliche Ausrüstung, folgen wir Juri mit einigen Metern Abstand zu einer ihm anscheinend wohl bekannten Stelle mitten auf dem See. Zwei kleine Löcher verraten, dass der Rentner nicht das erste Mal hier seine Zeit verbringt. Mit geschickten Handgriffen setzt er den Bohrer in die schon vorhandene Vertiefung und bohrt sich mit kräftigen Bewegungen bis zum Wasser. Mit einer alten Schaumkelle holt er die in dem Loch schwimmenden Eisspäne heraus und packt eine winzige Angel aus seinem Rucksack. Die wie ein Kinderspielzeug aussehende Vorrichtung besteht aus einer mit Sehne aufgewickelten Spule und einem kleinen scharfen Haken, an dem sich Juris Abendbrot verfangen soll. „Wo kommt Ihr her?“, will der Russe mit dem faltigen Gesicht wissen, als er einen kleinen Klappstuhl aufbaut, der im Rucksack Platz gefunden hat. „Ah, aus Deutschland, da war ich auch schon einmal in den 60er Jahren, als Soldat von 1963 bis 1966 in Dresden stationiert. Das war eine schöne Zeit“, schwärmt er und kauert sich zusammen. Der Wind ist frostig hier draußen auf dem Balchasch-See. Unerbittlich sticht er, wie mit kleinen Nadeln, in die sich ihm darbietende Haut im Gesicht. Das Sprechen fällt schwer und trotzdem berichtet Juri weiter von seinem täglichen Gang auf den Balchasch: „Ich angele hier mein Essen, gestern hatte ich 13 Fischchen, aber heute wollen sie irgendwie nicht so richtig beißen.“ Mit einem kurzen Wink auf die grauen Plattenbauten entlang des Ufers, mit den hunderten riesigen Satellitenschüsseln an den Fassaden, erzählt der Rentner, dass er dort in einer kleinen Einraumwohnung lebe. Das Eisangeln ist seine einzige Beschäftigung neben dem allabendlichen Fernsehen. Die Kälte wird immer unerträglicher, doch Juri scheint diese in seiner mit Pelz gefütterten Winterkleidung kaum etwas anzuhaben. Bevor wir in Richtung Ufer aufbrechen, berichtet Juri noch von den vielen Deutschen, die einmal in Balchasch gelebt und gearbeitet haben. Doch heute sei kaum noch einer von ihnen hier in der kargen kasachischen Steppe, am Nordwestufer des Balchasch-Sees, zu finden: „Nach Deutschland sind sie gegangen und haben hier alles zurückgelassen.“
Ruinen deutscher Vergangenheit
An einem kleinen Schiffskai gehen wir wieder an Land, vorbei an einer Handvoll Fischerboote, die gefangen im Eis des Balchasch-Sees liegen, gespenstisch und unbeweglich. Hinter Hausmauern vor dem eisigen Wind geschützt, spürt man sofort die wohltuenden, wärmenden Sonnenstrahlen, die vom Himmel scheinen. An der nächstgrößeren Straße halten wir ein Taxi an und bitte den Fahrer, uns ein wenig mehr von seiner Heimatstadt zu zeigen. Ein wenig irritiert erklärt sich Alik jedoch gern dazu bereit. Der junge Kasache mit der russischen Ledermütze auf dem Kopf fragt neugierig nach unserer Herkunft, denn, so fügt er hinzu, viele Touristen gäbe es in Balchasch sonst nicht und schon gar nicht mitten im Winter. Als er erfährt, dass wir aus Deutschland kommen, erzählt er uns die schon bekannte Geschichte, die wir bereits ein paar Mal in der kleinen Stadt am Rande des riesigen Balchasch gehört haben. Während Alik von den einstmals zahlreichen Deutschen berichtet, quält sich sein grüner Lada die steil ansteigende und vereiste Uferstraße in Richtung Steppe hinauf. Der Motor heult laut auf, und mit durchdrehenden Reifen kommen wir im Schritttempo nur meterweise voran. Einem Kind ausweichend, das auf seinem Schlitten die Straße hinunterrutscht, verliert der grasgrüne Lada gänzlich an Fahrt und muss umkehren. Dieser Anstieg war einfach zu steil. Auf einem Umweg durch die Stadt, vorbei am prächtig renovierten Kulturhaus, das von übermannshohen Statuen eines kasachischen Anglers und eines Bergmanns flankiert wird, erreichen wir nach ein paar Minuten den Stadtrand. Kleine buntbemalte Holzhäuser stehen hier neben Ruinen und Überresten menschlicher Siedlungen. „Hier haben viele Deutsche gelebt“, wiederholt Alik und zeigt in Richtung der Trümmerhaufen. Alles, was noch brauchbar war, scheint wieder woanders Verwendung gefunden zu haben. Übrig geblieben sind nur noch leer stehende Fassaden. An einem riesigen Rohbau aus Backstein, einem ehemaligen Kinderheim, wendet das Taxi. Vor uns liegt jetzt die riesige Kupferhütte, die mit ihren Abgasen den Himmel dunkel verfärbt. Noch einmal durchqueren wir das Stadtzentrum und passieren die Innenstadt mit den vielen renovierten Häusern.
Geistersiedlung mit Fischfabrik
Unmittelbar nach den letzten Häusern Balchaschs, dem Krankenhaus und einer Schule, beginnt links der Fahrbahn die weite Steppe. In einer langgezogenen Senke verliert sich der Schnee hinter Grasbüscheln und groben Steinen. Von einer kleinen Anhöhe überblickt man das weite baumlose Land. Auf der anderen Seite der Straße funkelt das Sonnenlicht im Schnee und Eis des riesigen Balchasch-Sees. Dieser einmalige Lebensraum, der zur einen Hälfte mit Süßwasser und zur anderen mit Salzwasser gefüllt ist, erstreckt sich in einer Länge von über 620 Kilometern quer durch die Steppe Kasachstans und hat eine Fläche von über 18.000 Quadratkilometern, so groß wie das Bundesland Thüringen. Bekannt ist der See vor allem durch seinen artenreichen Fischreichtum, der jedem Reisenden, nicht nur an Bahnhöfen und Bushaltestellen, geräuchert oder in Salz eingelegt angeboten wird. Auch die riesige Fischfabrik im benachbarten Schaschuwbai, mit bunten Mosaiken dekoriert, die sich groß vor unserem Taxi aufbaut, ist ein stummer Zeuge der Schätze des großen Balchaschs. Doch heute arbeitet hier keiner mehr. Zu aufwändig und teuer ist die Verarbeitung geworden. Vorbei an leer stehenden Plattenbau-Siedlungen, einer bis auf die Grundmauern geräumten Post und sowjetischer Straßenkunst im Zeichen des Friedens, verlassen wir die Zivilisation, um ein wenig durch die Steppe zu fahren. Am Horizont in der Ferne ist noch die Stadt Balchasch mit ihren rauchenden Schornsteinen zu sehen und ein Abbaugebiet für Kupfer, der zweite Schatz der Region. Nach ein paar Kilometern versperrt ein Schlammloch die Weiterfahrt. Wir lassen den Wagen für eine kleine Pause stehen. Die Stille und Weite des Graslandes faszinieren uns und belustigen Alik: „Was ist denn so schön an der Steppe?“ Auf die Antwort, dass es so etwas in Deutschland nicht gibt, reagiert der Taxifahrer entsetzt: „Ihr habt keine Steppe? Wir können sie nicht mehr sehen.“ Mit einer eindeutigen Handbewegung unterstreicht er seine Aussage noch. Da die Weiterfahrt unmöglich erscheint, kehren wir um. Bei der Fahrt zurück in die verschlafen wirkende Industriestadt am zweitgrößten See Kasachstans ist es sehr still im Wagen. Zu überwältigend sind die Gegensätze dieses Ortes. Der Lada holpert über die Steppenstraße, und im beginnenden Sonnenuntergang bekommt die Silhouette der Großindustrie einen fast romantischen Touch.
Den Abschied von Balchasch feiern wir am Abend in einem kleinen Kaffee in der Innenstadt. Der kleine Gastraum mit seinen fünf Tischen ist vollständig durch Leuchtstoffröhren in grün erhellt. Aus großen Lautsprecherboxen dröhnt aktuelle Popmusik. Schnell wird man dort auf den fremden Besuch aufmerksam und erkundigt sich nach der Herkunft. Und wieder hören wir die traurige Geschichte der deutschen Vergangenheit, durch deren Ende auch ein Stück von Balchasch für immer verloren gegangen ist.
Von Mathias Fritsche
10/03/06