Die DAZ veröffentlicht in dieser Ausgabe die Arbeit Nr. 35 von Dr. Dmitri Moser. Er war im Jahre 2011 Teilnehmer des Sprachwettbewerbs „Deutsch in meinem Heimatort“.

Im Rahmen der VIII. NOK-Konferenz im November 2011 erklärte sich Ernst Boos, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Republik Kasachstan und Vorsitzender der Deutschen Vereinigung Kasachstans zu einem Interview bereit.

Dmitri Moser: Herr Boos, wie sind Sie nach Kasachstan gekommen?

Ernst Boos: Nach Kasachstan kam ich, wie viele Deutsche auch, fast schon wie selbstverständlich. Als meine Großmutter starb, zog ich mit meiner Tante ins Gebiet Moskau um, und darauf hin nach Moskau zum Vater. Mein Vater Herbert arbeitete als Buchhalter im großen Handelszentrum gegenüber dem Mausoleum, dem GUM. Damals war er gerade in einen Bombenangriff geraten, eben lag er im Krankenhaus. Ich lebte also bei meiner Tante, der Schwester meines Vaters, bei Domodedowo. Unerwartet erklärte man uns, dass wir deportiert werden würden. Mitte August hat man uns auf einen Lastwagen verladen und nach Kaschira gebracht. Hier waren viele Deutsche aus Moskau und dem Moskauer Gebiet versammelt. Diese Menschen hat man alle in den Kreis Kasalinsk des Gebiets Kysylorda, an die 70. Abweichstelle, gebracht. Wir wurden ausgeladen, rundherum lauter Sand. Am Morgen erschienen am Horizont Menschen, die auf ihren Kamelen ritten: auf Anweisung des Stadtbezirkskomittees kamen diese Kasachen, um die deportierten Menschen in verschiedene Auls zu fahren. Uns hat man in den Aul Boskul zwischen Syrdarja und Aralsee gebracht, wo wir die ersten zwei Kriegsjahre verlebten, das heißt 1941 bis 1942. 1943, als der Erfolg der Roten Armee und der Rückzug der faschistischen Truppen langsam ersichtlich wurde, fuhren sehr viele Evakuierte aus Kasalinsk wieder fort. Sie gingen zurück in die Heimat, besonders in die Ukraine kehrten viele zurück. So wurde in der Schule zu Kasalinsk die Stelle eines Chemielehrers frei, und meine Tante erhielt sie. Auch ich zog mit um. In der ersten Klasse hatte ich in Moskau gelernt, in der zweiten in einer kasachischen Schule, in der dritten Klasse war ich gar nicht zur Schule gegangen, und nun kam ich sofort in die vierte Klasse in Kasalinsk. Hier beendete ich auch meine Schullaufbahn.

Waren Sie ein guter Schüler?

Ja, ich war einer der besten Schüler und hätte sogar eine Goldmedaille bekommen können, aber damals vergab man Medaillen nur mit Genehmigung der Behörden von Kysylorda. Ich schickte meine Unterlagen nach Kysylorda, wo sie geprüft wurden. Sie kamen erst zurück, als der Abschluss schon zu Ende war. Damals wusste ich noch nicht, was ich werden wollte. Arzt wollte ich nicht werden, lieber Physiker. Ich habe meine Papiere an die Technische Universität zur Immatrikulierung an die Elektrofakultät geschickt. Aber als ich sie zurückerhielt, war es schon zu spät. Außerdem hatte ich eine vier (die zweitbeste Note, Anmerkung d. Red.) in Russisch. Eine vier in Russisch hieß damals, dass man keine Möglichkeit hatte, sich an einer Universität zu bewerben. Außerdem waren die Prüfungen schon zu Ende. Der Dekan sagte mir: „Also, mein Freund, alle Bewerber sind schon aufgenommen“, und gab mir die Papiere zurück. Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Nur durch eine Bekannte, eine ehemalige Mitschülerin und nun Sekretärin im Komsomolkomitee der Pädagogischen Universität „Abai“, bekam ich die Möglichkeit, als Gaststudent Vorlesungen zu besuchen. Jeden Tag ging ich zu den Vorlesungen. Erst im November gelang es mir, an der Physikfakultät der Kirow-Universität, der heutigen Al-Farabi-Universität, aufgenommen zu werden.

Ende 1949 bewarb ich mich an der Physikfakultät. Erst nach drei Jahren nahm man mich als Studenten auf, wobei ich eigentlich an die Fakultät für Kernphysik wollte. Aber man sagte mir, es sei für mich nicht notwendig, dahin zu gehen. Und so wurde ich Student am Lehrstuhl für Molekülphysik, den ich 1954 absolvierte. Ich wollte sofort mit der Aspirantur beginnen, denn ich hatte ein Diplom mit Auszeichnung. Doch wurde ich in einer Schule eingesetzt, da es dort um den Physikunterricht damals sehr schlecht stand. So kam ich in eine Schule südlich von Schymkent. Während meines letzten Ausbildungsjahres an der Hochschule hatte ich mir durch Unterrichtsstunden in einer Abendschule etwas dazuverdient. Nun war ich ein Jahr Lehrer in einer Mittelschule. Anfang 1956 kam ich zurück ins Institut und arbeitete dort weiter.

Herr Boos, wie haben Sie sich als Gelehrter der deutschen Diaspora in Kasachstan gefühlt? Hatten Sie das Gefühl, etwas verpasst zu haben, zu etwas nicht gekommen zu sein?

Ich bin zu vielem gekommen und habe vieles getan: Habe mehr als 400 wissenschaftliche Arbeiten, drei Monografien veröffentlicht, zwölf Kandidaten der Wissenschaft und drei Doktoranden vorbereitet. Bis jetzt arbeite ich aktiv im Bereich der Kernphysik. Ich meine, man muss sich mit der Wissenschaft beschäftigen, weil sie das Leben lebenswerter macht. Die Arbeit in der Wissenschaft vergleiche ich mit dem Rudern im Boot gegen die Strömung: Rudert man gegen die Strömung, so rückt man nach oben auf. Kaum hat man die Ruder gesenkt, trägt der Fluss einen nach unten fort. Deshalb bevorzuge ich stets zu rudern, und bis jetzt reichen mir die Kräfte noch aus. Enden sie, bedeutet das das Ende. So soll einer das Interesse für die Wissenschaft nie verlieren, egal in welchem Alter er ist. Es ist eines der Kriterien für den Wissenschaftler von heute. Viele Beispiele bestätigen das. Geistig hochstehende Menschen setzen ihre geistigen Fähigkeiten bis zuletzt ein, weil sie geistige Potenzen und ihren Verstand ihr Leben lang trainiert haben. Der Verstand ist wie ein Muskel: Trainiert man die Muskeln nicht mehr, werden sie schwach, und wenn man das Gehirn nicht trainiert, wird es ebenso schwach.

Herr Boos, Sie sind ein bedeutender Vertreter der geistigen Elite der deutschen Diaspora in Kasachstan. Was können Sie über deren Wissenschaftler sagen?

Vor kurzem war ich auf der Konferenz der wissenschaftlichen Vereinigung der koreanischen Diaspora. Die Koreaner forschen von Kasachstan aus, deshalb nimmt ihre mächtige Diaspora an Kräften nicht ab. Unsere Diaspora dagegen verringert sich. Jetzt zählt sie offiziell zirka nur 200.000 Menschen. Dabei besteht sie hauptsächlich nicht mehr aus ethnischen Deutschen, sondern zu einem großen Teil aus Menschen, die aus gemischten Familien stammen und an den deutschen Problemen kaum noch interessiert sind. Etwa 75 Prozent der Deutschen sind nach Deutschland ausgesiedelt.

Es würde den Rahmen unserer Möglichkeiten sprengen, all jene Aufgaben zur Wiederbelebung der deutschen Diaspora jetzt zu erfüllen. Die Festigung ihrer wissenschaftlichen Bedeutsamkeit, die Stärkung des wissenschaftlichen Potentials und besonders die Arbeit mit den jungen, erfolgversprechenden Wissenschaftlern aus der deutschen Diaspora – all das ist uns sehr wichtig.

Darin besteht die Hauptfunktion unserer Organisation. Immerhin gibt es noch unter uns solche herausragenden Persönlichkeiten wie die Akademiemitglieder Erwin Gossen, Albert Rau, und Viktor Kist – alles Menschen meiner Generation.

Was würden sie einem jungen Gelehrten der deutschen Diaspora abschließend wünschen?

Fleiß und Liebe zur Wissenschaft. Was beschäftigt die Jugend heutzutage? Die Jagd nach Geld. Ich kenne ein trauriges Beispiel: Sechs Menschen ihrer Zunft machten Praktika im Bereich der Wissenschaft, doch nur die Hälfte blieb dabei; andere gingen zu Banken oder Firmen. Dieses Problem macht übrigens nicht nur uns zu schaffen…

Herr Boos, wie ist Ihr Lebensmotto?

Mein Lebensmotto lautet: «Nicht verzagen, sondern kämpfen!»

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr.-Ing. D.V. Moser ist Vorsitzender des Jugendsektors der Kasachstandeutschen Wissenschaftlichen Vereinigung.

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