Die deutschstämmige Eva Becher ist Frontfrau der Almatyer Band „Goroda“. Vergangenen Dienstag hatte sie mit ihrer Gruppe das Debütkonzert im Klub „Pjath Oborotow“. Im DAZ-Porträt beschreibt unsere Autorin Sylvia Scholz die Herkunft der 33-Jährigen und die Ursprünge ihrer Leidenschaft für die Musik.

Keine Hits aus den Goldenen 60ern, 70ern, 80ern oder 90ern, keine amerikanischen, englischen, australischen oder deutschen Coverversionen, kein „Wind of Change“ oder „I will always love you“ – keine Fälschung also, sondern Original im kosmopoliten, covergestörten Almaty: Die kasachische Band „Goroda“ gab am 5. Juni ihr erstes Solokonzert im Klub „Pjath Oborotow“. Sie hat sich mit eigener Musik und eigenen Worten ihrem eigenen Publikum gestellt, von dem sie nicht wusste, ob es existiert: „Es gibt keine Nachfrage nach unserer Musik“, sagt Eva Becher, die Sängerin und das Gesicht dieser unikalen Band. Die 33jährige ist Deutsche und Nachfahrin der durch die russische Zarin Katharina der Zweiten eingeladenen Deutschen.

Eva Bechers Familiengeschichte reicht weit zurück ins 18. Jahrhundert. Mehr als 200 Jahre sind vergangen, seitdem der mennonitische Pastor Wiebe, ein Urahne von Eva, aus Holland auf die Krim flüchtete, um eine Mennonitenkolonie zu gründen. Er wollte Repressalien wegen seines Glaubens entkommen und hoffte auf die Freistellung vom Militär. Die Ruhe währte wie bekannt nicht lange. Das Manifest Alexander des Dritten 1887 war der Auftakt, das Motto „Russland muss den Russen gehören!“, die Revolution tat ihr übriges. Eva Bechers Uropa väterlicherseits, Jakob Jakowlewitsch Wiebe, ein Nachkomme des holländischen Pastors Wiebe, ist erschossen worden. Uroma Elisabeth Kusminitschka und deren Tochter Jekaterina Jakowlewna, 1925 noch auf der Krim geboren, wurden am 12.8.1941 nach Kasachstan umgesiedelt und waren bis 1956 in der Trudarmee in Karaganda (Karlag). Oma Jekaterina Jakowlewna lernte dort ihren Mann, den deutschen Lutheraner Nikolai Danilowitsch Becher kennen. Evas Vater, Nikolai Nikolajewitsch Becher, ist 1953 im Karlag geboren worden, Mutter Tatjana Matijewna Becher (geborene Swonzowa) ebenfalls. Deren Vater, Evas Opa mütterlicherseits, Mattwei Magantejewitsch Swonzow, wurde in den 50er Jahren wegen scharfer Äußerungen gegen die Sowjetmacht von der Arbeit abgeholt und in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo er nach kurzer Zeit starb. Evas Oma mütterlicherseits, Lubow Timorejewna Swonzowa (geborene Pogorelowa), 1925 in Baschkortostan zur Welt gekommen, wurde 1933 mit ihren Eltern nach Karaganda ins Arbeitslager verbannt. Ihr Vater, Uropa Timofei Sergejewitsch Pogorelow, hatte bis dahin als Lehrer und Schuldirektor in Baschkirien gearbeitet und sich aktiv an der landesweiten Alphabetisierungsaktion beteiligt, war freiwillig in den Kolchos eingetreten, während seine beiden Brüder, ein russischer orthodoxer Priester, und ein Weißgardist, beizeiten nach China und Europa geflüchtet waren. Nichtsdestotrotz wurde die Familie enteignet und im Viehwagen nach Kasachstan transportiert. Zwei Tage liefen sie zu Fuß durch die Steppe, ihr neugeborenes Kind starb auf diesem Weg. Sohn Alexander aus erster Ehe wurde in ein Strafbataillon an die Front eingezogen und starb am ersten Kriegstag.

Eine Familiengeschichte voller Willkür, Zwang und Staatsgewalt. Freiwillig waren sie aus Holland und Deutschland auf die Krim und an die Wolga gekommen. Ihre selbst gewählte neue Heimat war das alte Russland, erwacht sind sie in Kasachstan, über Nacht ihrer Heimat beraubt. Genauso wie auch Eva Becher von sich sagt, über Nacht heimatlos geworden zu sein an dem Tag, als die Sowjetunion zerbrach und Kasachstan unabhängige Republik wurde.

„Moi adress ne dom i ne uliza, moi adress Sowjetski Sojus“ (Hinter meiner Adresse steht kein Haus und keine Straße, meine Adresse ist die Sowjetunion.) – so der Titel eines sowjetischen Schlagers. So könnte man wohl auch Evas Heimatverständnis charakterisieren, obwohl es über die Grenzen der Sowjetunion noch hinausgeht, weiter zurück, in die Zeit des historischen Russ-lands, verknüpft mit deutschen Traditionen. „Bei uns zu Hause wurden Ostern und Weihnachten immer doppelt gefeiert, der Weihnachtsbaum stand ab 1. Dezember und in der Küche buken Pfefferkuchen. Zu Ostern gab es Osterbrot, Ostergras und Ostereier und den Rest des Jahres hat man sich mit Apfelstrudel, Sauerkraut und Schweinebraten, Backhähnchen und Nudelsuppe der historischen Heimat erinnert“, sagt Eva. Oma und Opa sprachen nur auf Deutsch miteinander, während Evas Eltern ihr die Wiegenlieder schon in russischer Sprache sangen, sie in eine sowjetische Schule ging und eine sowjetische Kinderkarriere startete. Sie gewann Lieder-, Gedicht- und Schönheitswettbewerbe, zeichnete, tanzte, sang und seit der siebenten Klasse moderierte sie sogar ihre eigene Kindersendung im Karagandaer Gebietsfernsehen. Es scheint, als ob sie alle Freiheit und Kreativität, die ihren Eltern und Großeltern versagt war, in großem Stil nachholen wollte.

Sie arbeitete als Modell und gründete ihre eigene Modellagentur „Eva“. Im örtlichen Radiosender „Teks“ moderierte sie die Erotikshow „Träumerei“, um den fehlenden Reklameetat des Senders auszugleichen. Nach einem Monat sprach die ganze Stadt davon. Die Zeitungen rissen sich um sie, an den Häuserwänden las man „Eva, ich liebe dich“ und „Gebt Eva dem Volk zurück“. Sie war ein Star in Karaganda, sie war populär. Aber sie sagt: „Mir wurde es zu eng.“ Sie wollte hinaus in die weite Welt, sie wollte Schauspielerin werden: „Jedes Mädchen will irgendwann mal Schauspielerin werden.“ Schließlich erhielt sie die Zulassung zum Literaturinstitut in Moskau, Abteilung Szenarium, und fuhr nicht hin. Stattdessen ging sie nach Almaty. Sie wollte ihre Seifenblasenpopularität hinter sich lassen und endlich wahrhaft schöpferisch tätig werden: „Was hat man schon von dieser Popularität? Man schafft letztlich nichts Wirkliches, das ist keine Kunst“. Sieben Jahre ist das jetzt her.

Vor fünf Jahren gab sie ihren Ausreiseantrag nach Deutschland ab: „Ich wusste nicht mehr, was ich eigentlich will.“ Ein Jahr später fand sie ihre schöpferische zweite Hälfte Alex Neumann. Mit ihm gründete sie die Gruppe „Goroda“. Vor einem Monat gab Eva Becher ihren Job als Chefredakteurin der Zeitschrift „Afischa“ auf, um sich endlich hauptberuflich konsequent um ihre Band zu kümmern. Das erste Solokonzert der Gruppe ist nun Geschichte und in wenigen Tagen kommt ihr erstes Album heraus. Ihr Antrag auf Ausreise nach Deutschland wurde genehmigt. Aber das interessiert Eva schon lange nicht mehr: „Ich wollte nicht nach Deutschland wegen des Wohlstandes, ich wollte vor mir selbst davon laufen. Inzwischen weiß ich, dass alle meine Probleme in meinem Kopf sind, egal ob in Deutschland oder Kasachstan.“ Es ist lange her, dass sie nicht wusste, wie weiter und wohin. Das, worauf sie gewartet hat, ist passiert. Sie hat ein Ziel, einen Sinn gefunden. Eva Becher will mit ihrer Band in Russland auftreten, der Wahlheimat ihrer Vorfahren, sie will dort Musik machen. Und sie will sich davon nicht ablenken lassen. (Lesen Sie auch unseren Konzertbericht auf Seite 9!)

Von Sylvia Scholz

08/06/07

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