Aktuell befasse ich mich mit dem Konstruktivismus. Das hätte ich mal besser bleiben lassen! Auf erschreckende Thesen stoße ich da, die mein Weltbild erschüttern.
Dass wir uns nämlich gar nicht wirklich erinnern, wenn wir uns zu erinnern meinen, sondern dass wir uns vieles nur zusammenreimen. Dass alles nur neuronal abläuft in unserem Hirn. Nämlich. Und richtig hoch her geht es im Erinnerungslabor, wenn unser Hirn Fotomontagen geliefert bekommt. Ein montiertes Bild von uns selbst im Disneyland, und schon erinnern wir uns, wie wir Bugs Bunny die Hand geschüttelt haben und uns dabei vor Aufregung das Softeis zerlief, dass die Sonne geschienen hat und dann plötzlich Goofy um die Ecke kam… mit allen Details und ganz aus dem Effeff, obwohl wir niemals dort waren! Und das alles in ein einziges Bild hineininterpretiert, als wären wir live dabei gewesen. Alles nur chemische Reaktionen.
Fachleute aus der Justiz sagen, das Unzuverlässigste an den Tatvorgängen seien die Zeugenaussagen. Wobei das Ganze auch einen praktischen Aspekt hat. Auf diese Weise kann man sich allerhand sparen und auch noch die Umwelt schonen, die Verreiserei zum Beispiel ist vollkommen überflüssig. Wenn man sich später sowieso falsch an den Urlaub erinnert, kann man ihn sich auch gleich von vornherein selbst ausdenken. Womöglich ist dann auch der Erholungseffekt größer, weil man all die Strapazen weglassen kann, jeden Tag Sonne!
Das alles kann ich noch als pseudointeressierte Amateur- und Thekenphilosophin hinnehmen, doch die Faszination an dem Phänomen verliert sich, sobald ich mich frage, und die Frage kann leider nicht ausbleiben, was ich mir denn selbst alles im Leben zusammenreime. Bestimmte Dinge waren doch wirklich, oder?! Das wäre belegt durch die gemeinsame Erinnerung mit Freunden, der Familie. Plausibel erscheint jedoch, dass die Sinnestäuschung auch kollektiv funktioniert, dass mein Bruder und ich uns gemeinsam in irgendwelche Halbwahrheiten hineinflunkern, wir uns gegenseitig den Ball zuspielen. Das eine Wort ergibt die andere erfundene Situation – nicht vorsätzlich, versteht sich. Mein Bruder schildert, wie wir damals im Baumhaus… und schon entsteht das Bild in meinem Kopf, greifbar real, und dann fällt mir dazu ein, wie wir darin Marmorkuchen…
Was ist also mit all meinen schönen Erinnerungen, die mein Leben so bunt und interessant machen – alles Hirngespinste? Ist es so wie bei meiner Großmutter, die die schönste und schnellste junge Dame in ihrem Dorf war, die niemals Angst aber den größten Busen hatte? Die ganz allein das Haus gebaut hat und immer, aber auch jedes Mal, beim Kartenspielen gewonnen hat?! Wie wäre ihr das Leben ohne diese Erinnerungen vorgekommen, hätte sie genauso viel Freude empfunden?
Wie steht es also um meine Erinnerung, dass meine Oma immer und überall die leckersten Frikadellen dabei hatte, in ihrer Handtasche, sogar in der Philharmonie? Aber ich sehe es doch genau vor mir! Und nun – alles ein Streich des Hirns?
Aber selbst, wenn! In meinem Inneren hatte ich die tollste Oma der Welt, und sie hatte immer die leckersten Frikadellen der Welt in ihrer Handtasche dabei – sogar in der Philharmonie! Das kann mir keiner nehmen, auch keine Neuronen.
Julia Siebert
02/11/07