In Zeiten dynamischen Wandels, in denen zunehmend Flexibilität und Mobilität gefordert sind, braucht man fixe Faustregeln, an denen man sich festhalten kann, die auch bei Flut und Sturm, Finanz-Crash und Klimawandel gelten und die man im Schlaf und Suff herbeten kann.

Hier ist gut gewappnet, wer bibelfest ist. Bin ich bekanntlich nicht, drum klaube ich aus verschiedenen Metiers zusammen, was ich greifen kann. Bauernsprüche, die Lebensweisheiten meiner Oma, Filmzitate, Zaubersprüche aus Harry Potter … Aus einer S-Bahn-Fahrt habe ich mitgenommen: „Das Zurück ist das A und O!“ (ich berichtete). Hinter solchen knappen und vermeintlich banalen Aussagen steckt ja stets ganz viel Lebensphilosophie. Während sich die Frau nur kurzsichtig dafür interessiert, ob die S-Bahn zum Flughafen fährt, nimmt ihr Gatte den Gesamtkontext (das S-Bahn-Netz verschiedener Verkehrsgebiete) in der Kausalität der Kontextfaktoren in den Blick. Wenn man wissen möchte, wohin etwas fährt, muss man sich auch damit befassen, woher etwas kommt, denn ohne Woher kein Wohin, und da ist natürlich das Zurück das A und O, vollkommen klar. Wer das so angeht, kann Rückschlüsse vom einen Zustand auf den anderen Faktor ziehen und ist nicht abhängig von Beschilderungen und Fahrplänen. Super Sache.

Nun habe ich eine neue Faustregel an die Hand bekommen: „Für eine Quarte guckt man nicht!“ Ich habe schon die dazugehörige Grundregel verinnerlicht, dass man beim Orgeln möglichst wenig guckt, jedenfalls nicht auf die Hände und Füße. Zu Beginn nordet man sich mit dem Bauchnabel auf das „c“ ein, von da aus sollen dann die Hände und Füße bitteschön selbst zusehen, dass sie alles finden, was sie für eine Fuge brauchen. Der Blick bleibe dabei am liebsten auf die Noten geheftet. Erweiterung der Regel: Ein bisschen gucken darf man aber doch hin und wieder. Das kommt mir sehr entgegen, ich habe nur noch nicht verstanden, unter welchen Bedingungen Gucken erlaubt ist. Ich glaube, das darf man dann, wenn es unter Beteiligung vieler Extremitäten kniffelig zur Sache geht. Oder so. Fragt sich natürlich, was dabei „kniffelig“ heißt, das ist ja relativ. Zuletzt jedenfalls fand ich eine Passage ziemlich kniffelig und fühlte mich berechtigt zu gucken. Was ich denn da zu gucken hätte, kam prompt die Zurechtweisung meines Orgellehrers. Na, dass alles am rechten Platz ist, versteht sich. Offenbar fand mein Orgellehrer diese Stelle alles andere als kniffelig, sogar äußerst überschaubar und klar geregelt, weil ja eine Quarte. Ach so?

Merke auf: Bei einer Standard-Maßeinheit (der Quarte) liegt der Abstand der Füße auf der Hand. Da gibt es nichts zu gucken, die Füße finden die Pedale auch ohne Schützenhilfe von oben. Das leuchtet mir ein, die Faustregel habe ich intus. Problem ist nur noch, dass ich das Phänomen bzw. die Maßeinheit Quarte noch nicht aus dem Effeff erkennen kann. Dass ich mich, eine Quarte verkennend, doch mal unerlaubterweise im Spiel vergucke, ist quasi vorprogrammiert. So kann ich diese schöne Regel erst später anwenden. Aber die zugrundeliegende Lebensphilosophie dieser Regel gilt auch heute schon: Man muss auch mal los- und lockerlassen, den Kontrollzwang und die Versagensängste ablegen; mehr Vertrauen in die Hände und Füße stecken, dass sie schon irgendwie ertasten, was nötig ist. Schade nur, dass man diese schöne Regel einzig an der Orgel anwenden kann.

Julia Siebert

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