In der Kinderbibliothek „Sapargali Begalin“ fand eine offene Seminarstunde zum Thema Goethe und Abai statt. Studenten der Abai-Universität gingen den literarischen Spuren der Dichtung von Abai Kununbajew nach.

Über den Bergen ist stockfinstere Nacht, es weht kein Wind, kein Vogel zwitschert, und es herrscht Totenstille. Ein ähnliches Bild zeichnet das Gedicht „Wanderers Nachtlied“ von Johann Wolfgang Goethe, in dem vordergründig ein müder Wanderer spricht, der die nächtliche Stille auf dem Kickelhahn in Ilmenau beschreibt, der höchste Hügel im Ilmtal, im Thüringer Wald gelegen. Diese acht Zeilen wurden 1815 zum ersten Mal veröffentlicht und mehrere Male übersetzt worden, unter anderem von dem russischen Dichter Lermontow, dessen viel romantischer klingende Übersetzung als Vorlage für Abais Volksdichtung diente. Der kasachische Nationaldichter übersetzte viele russische Werke ins Kasachische. So ist Goethes Werk über Umwege in Zentralasien angekommen.

Wenn Goethe über die Hügel von Ilmenau dichtet, so singt Abai über die Steppe und das zentralasiatische Gebirge. Wie verlief die literarische und sprachliche Transformation von „Wanderers Nachtlied“ hin zum kasachischen Volkslied? Dieser Frage versuchten die Studenten der philologischen Fakultät der Abai-Universität während einer offenen Seminarstunde in der Kinderbibliothek „Sapargali Begalin“ auf den Grund zu gehen. Dazu hatte die Leiterin des Lehrstuhls für russische Philologie für ausländische Studenten der Kasachischen Nationalen Pädagogischen Universität Saule Begalijewa eingeladen.

In Berlin-Rosenthal erinnert eine kleine Straße an den großen kasachischen Volksdichter Abai Kunanbajew. Zufällig befindet sich dort auch die Botschaft der Republik Kasachstan. Hier in Kasachstan ist er als Volksdichter bekannt, der besonders mit seinen mündlichen Überlieferungen die kasachische Literatur und Sprache geprägt hatte. Viele seiner Poeme und Literaturübersetzungen aus dem Russischen sind im kasachischen kulturellen Gedächtnis fest verankert.

Für die Studenten der Abai-Universität ist es selbstverständlich, sich mit ihrem Namenspatron zu beschäftigen. Dennoch war einigen nicht bewusst, inwieweit die Literatur des kasachischen Volksdichters von europäischen Dichtern beeinflusst wurde. Goethe und Abai haben gemeinsam, dass sie in ihren Heimatländern als Literaturtitanen gelten, obwohl sie keine Zeitgenossen waren. Umgekehrt gibt es einige wenige Abai-Übersetzungen aus dem Kasachischen ins Deutsche. Dies ist unter anderem dem russlanddeutschen Schriftsteller Herold Belger zu verdanken.

Unter den Studenten befanden sich neben Koreanern, Vietnamesen und Iranern auch Angehörige der kasachischen Minderheit aus China. Für sie war das Thema „Abai und Goethe“ besonders interessant. Die Studentin Gjazin Zdjujan berichtete, dass „Wanderers Nachtlied“ einfach nur als eine Übersetzung von Abai wahrgenommen werde, weil Goethe auch in China bekannt sei. In Kasachstan wird das Werk von Abai nicht so differenziert betrachtet. Die meisten Kasachstaner vereinnahmen Abais Übersetzung der Lermontow-Übertragung von „Wanderers Nachtlied“ als kasachische Volksdichtung.

Von Dominik Vorhölter

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