Die Geschichte der Russlanddeutschen erzählt Valentina Geringer, 26 Jahre, immer wieder, um ihre eigene Herkunft zu erklären. Geboren in einem Dorf im Süden Russlands, ist sie mit sechs Jahren in das Heimatland ihrer Vorfahren übergesiedelt. Sie ist in Deutschland angekommen und fühlt sich dennoch als Teil einer Minderheit.
/Bild: privat. ‚Valentina Geringer als Praktikantin im ifa: „Nur durch den fortwährenden Dialog kann das gegenseitige Verständnis wachsen“/
Valentina, was verbindest du mit Kasachstan?
Ich war selber noch nie in dem Land. Kasachstan kenne ich nur aus Erzählungen meines Vaters, der in dem Dorf Romanowka in der Nähe der heutigen Hauptstadt Astana aufgewachsen ist. Er hat mir von den Wintern erzählt, in denen alles zugeschneit war, und in denen er mit Filzstiefeln durch den Schnee gewandert ist, und von den Sommern, in denen er im Fluss gebadet hat. Ich bin in einem russischen Dorf in der Schwarzmeerregion geboren worden. Meine Eltern sind Russlanddeutsche, stammen aber aus verschiedenen Regionen und sind mit verschiedenen deutschen Dialekten aufgewachsen, deswegen haben sie untereinander und mit uns Kindern immer Russisch gesprochen. Wir waren in die russische Gemeinschaft integriert, wurden aber immer als Deutsche wahrgenommen.
Als du sechs Jahre alt warst, im Jahre 1990, bist du mit deiner Familie nach Deutschland übergesiedelt. Wie ist deine Ankunft in Deutschland verlaufen?
Ich bin direkt eingeschult worden. Am Anfang war es natürlich schwierig – eine neue Sprache, eine andere Kultur. Im Klassenraum habe ich immer ganz gerade gesessen, und wenn die Lehrerin mich im Unterricht aufgerufen hat, bin ich aufgestanden, so wie ich es aus Russland kannte. Meine Mitschüler haben mich ganz gut aufgenommen, für sie war ich etwas Besonderes, ich kam aus einem fernen Land und sprach eine andere Sprache, alle wollten mich als beste Freundin gewinnen. Wir waren in einer kleinen Stadt in der Nähe der holländischen Grenze die erste russlanddeutsche Familie.
War es leicht für dich, die deutsche Sprache zu lernen?
Ich habe in der Schule Deutsch gelernt und hatte auch noch zusätzliche Stunden. Wir haben schnell Deutsch gelernt. Mein Vater hat mit uns Diktate geschrieben und deutsche Texte gelesen. In der Familie haben wir vom Russischen ins Deutsche umgewechselt und sprechen bis heute Deutsch untereinander. Wenn mich bei Familienfeiern jemand auf Russisch anspricht, antworte ich auf Deutsch.
Du sprichst perfekt Deutsch, hast in Deutschland Abitur gemacht, studierst in Stuttgart Geschichte und Englisch und hast viele deutsche Freunde. Fühlst du dich dennoch als Russlanddeutsche?
Ich fühle mich als Teil einer Minderheit in Deutschland. Obwohl ich vollständig in Deutschland angekommen bin, fühle ich mich nicht als Einheimische, sondern als Russlanddeutsche. Ich bin in keinem russlanddeutschen Verein, habe auch nur zwei russlanddeutsche Freundinnen, trotzdem fühle ich mich als Teil einer Minderheit, die in einer Mehrheitsgesellschaft lebt.
Welchen Tipp für eine erfolgreiche Integration hast du?
Am wichtigsten scheint mir der Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft zu sein, Freundschaften aufzubauen und seine eigene Herkunft und Geschichte zu erklären. Als in den 90er Jahren viele Russlanddeutsche nach Deutschland kamen, gab es zu wenig Integrationsarbeit. Wahrscheinlich hatte man nicht damit gerechnet, dass so viele ethnische Deutsche kommen würden. Diese Versäumnisse spüre ich bis heute, vielen Deutschen ist kaum etwas über die Geschichte der Russlanddeutschen bekannt. Wenn ich neue Leute kennenlerne, erkläre ich immer, warum wir aus Russland nach Deutschland gekommen sind und was es mit meiner Herkunft auf sich hat. Nur durch den fortwährenden Dialog kann das gegenseitige Verständnis wachsen.
Was interessiert dich besonders an der Geschichte der Russlanddeutschen?
In meinem Geschichtsstudium habe ich bereits ein Seminar zum Thema Migration in Europa belegt. Über die Auswanderung der Deutschen nach Amerika gibt es viel Literatur. Die Geschichte der Auswanderungswellen der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert in den Osten ist noch nicht so weit erforscht. Über dieses Thema möchte ich gerne meine Abschlussarbeit schreiben und so zu einem besseren Verständnis der Geschichte der Russlanddeutschen beitragen.
Möchtest du nach Abschluss deines Studiums gerne mal in Russland oder Kasachstan arbeiten?
Diese Richtung interessiert mich sehr, und ich möchte mir die Möglichkeit, in einem deutsch-russischen oder deutsch-kasachischen Projekt zu arbeiten, gerne offen halten.
Was meinst du, soll man die deutsche Minderheit in Russland und Kasachstan weiter fördern?
Ich meine, dass man sie als Teil der kulturellen Vielfalt weiter unterstützen soll. Die deutsche Minderheit trägt auch dazu bei, das Deutschlandbild in diesen Ländern zu repräsentieren. Darum mache ich auch im Moment das Praktikum beim Institut für Auslandsbeziehungen. Ich bin überzeugt davon, dass die Unterstützung der deutschen Minderheit, unter anderem durch das ifa, von großer Bedeutung ist, für ein besseres Verständnis zwischen Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen.
Haben deine Eltern manchmal Heimweh nach Russland?
Ich würde nicht sagen Heimweh, sie denken manchmal mit Nostalgie an die vergangene Zeit zurück, schließlich haben sie ihre Jugend in diesen Ländern verbracht. Vor fünf Jahren haben meine Eltern zum ersten Mal nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland wieder Russland besucht und ihre Freunde getroffen. Ansonsten fühlen sich aber beide in Deutschland sehr wohl. Mein Vater hat direkt nach seiner Ankunft in Deutschland Arbeit in einem Betrieb gefunden, in dem er bis heute angestellt ist. Meine Mutter hat verschiedene Aushilfstätigkeiten angenommen und arbeitet heute in der Produktion.
Valentina, du hast noch eine ältere Schwester. Ist ihre Integration auch so erfolgreich verlaufen?
Meine Schwester ist fünf Jahre älter, und sie war schon fast in der Pubertät, als wir nach Deutschland gekommen sind. Das hat es für sie ein bisschen schwieriger gemacht, mit anderen Jugendlichen in Kontakt zu kommen. Auch in der Schule hatte sie es immer schwer, da sie nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch Englisch und bald darauf Französisch lernen musste. Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer fielen ihr jedoch gleich sehr leicht. Sie hat nach dem Abitur dann auch Wirtschaftsmathematik studiert und dann einige Jahre als Versicherungsmathematikerin gearbeitet. Mittlerweile ist sie verheiratet und arbeitet mit ihrem Mann in seinem Betrieb. Ich glaube, je jünger man ist, desto einfacher ist es, sich in eine andere Kultur einzufinden. Aber wie man am Beispiel meiner Schwester und vieler anderer in meiner Familie sieht, sind der Wille zur Integration und viel Arbeit die Grundvoraussetzungen dafür.
Beschäftigst du dich in deiner Freizeit mit Kasachstan?
In meiner Freizeit bin ich gerne künstlerisch aktiv, und wenn es die Zeit erlaubt, male ich Bilder. Die Themen sind ganz verschieden; für die Wohnung meiner Freundin habe ich letztens ein Strandbild gemalt. Ich habe auch schon verschiedene Symbole des chinesischen Horoskops auf Leinwand gezeichnet. Außerdem koche und backe ich gerne: Plow, Vinegret-Salat, Napoleonkuchen, russische Pelmeni – mit diesen Gerichten bin ich aufgewachsen, und die mag ich immer noch gerne. Meine Freunde freuen sich immer besonders, wenn sie mal wieder ein anderes russisches Gericht ausprobieren dürfen. Im russischen Laden kaufe ich gezuckerte Milch und die roten Hahn-Lutscher. Besonders gefällt mir, wenn mein Vater kasachische Fleischgerichte wie Besbarmak und Kaurdak kocht, die Zubereitung möchte ich auch noch lernen.
Das Gespräch führte Christine Karmann.
15/01/10