Eine unter Russlanddeutschen bekannte Bloggerin, Podcasterin und Autorin – über Journalismus in Deutschland, „Steppenkinder“, Entscheidungsfreiheit und universelle Werte.

Ira, du bist eine bekannte Persönlichkeit unter Russlanddeutschen in Deutschland. Du leitest Projekte, schreibst über die Geschichte und Gegenwart der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler:innen.

Ich beschäftige mich seit Herbst 2017 öffentlich mit meiner Herkunft und dem Thema Russlanddeutsche. Damals war Bundestagswahl in Deutschland und Medien stellten Russlanddeutsche als eine Gruppe dar, die kremlhörig ist und rechtsgerichtete Parteien wählt. Das entspricht jedoch nur einem sehr kleinen Teil der Russlanddeutschen. Mit meinen journalistischen Texten wollte ich damals zeigen, dass es auch andere, liberal denkende Russlanddeutsche gibt. Mir war und ist bis heute wichtig, Wissen über Russlanddeutsche in Deutschland zu verbreiten. Seit 2020 hoste ich zusammen mit Edwin Warkentin, Kulturreferent für Russlanddeutsche, den Podcast Steppenkinder. Hier sprechen wir mit Expertinnen und Experten über die Geschichte der Russlanddeutschen und auch aktuelle Themen rund um diese etwa 3 Millionen Menschen in Deutschland. Ich halte außerdem Vorträge und Workshops zu dem Thema.

„Wenn Sie mit sich selbst sprechen, ist es viel angenehmer zuzuhören als zu reden“, sagte der Journalist Philip Winter im Film „Alice in the City“ von (1974). Deine Meinung dazu?

Ich höre tatsächlich viel lieber zu, als dass ich selbst erzähle. Ich finde Menschen und ihre Geschichten sehr spannend. Deshalb habe ich Literatur und Psychologie studiert. Am liebsten führe ich Interviews mit älteren Menschen. Ich möchte das festhalten, was sie erlebt haben, damit wir Jüngeren daraus lernen können.

Ist es schwierig, Journalist in Deutschland zu sein? Wie kann man sich nicht im Beruf eines Journalisten verlieren?

Ich habe schon während der Schulzeit ein Praktikum bei einem Radiosender gemacht, während des Studiums habe ich drei Jahre für eine Zeitung gearbeitet. Nach dem Studium habe ich mich aber für den sichereren Berufsweg entschieden und habe zunächst im Marketing gearbeitet. Bis heute arbeite ich als Marketingberaterin und Journalistin, weil man mit Journalismus und Kultur allein leider wenig Geld verdient. Ich wünschte, Konsumenten wären bereit, mehr Geld für guten Journalismus und Kulturangebote auszugeben, so dass manche Redaktionen ihre Mitarbeiter besser bezahlen könnten und Institutionen mehr Projekte umsetzen könnten.

Ich habe das Gefühl, ich kann als Journalistin in Deutschland über alle Themen offen schreiben. Ich habe weder bei meinen Text- noch bei meinen Radiobeiträgen jemals eine Art Zensur durch Redaktionen erlebt. Diese Freiheit in Deutschland motiviert mich, auch weiterhin als Journalsitin und Autorin tätig zu sein, weil ich weiß, dass ich mit meiner Arbeit einige Menschen erreiche. Zum Beispiel schreiben mir regelmäßig Russlanddeutsche über soziale Medien, dass meine Beiträge zur Familienforschung sie dazu motivieren, selbst zu ihren Wurzeln zu recherchieren.

Ich weiß, dass du das Glück hattest, Stadtschreiberin in Odessa zu sein. Welche Erinnerungen hast du an diese Küstenstadt?

Ich durfte 2021 fünf Monate als Stadtschreiberin in Odessa leben. In dieser Zeit habe ich viele interessante Menschen kennengelernt, einige der Gespräche kann man auf meinem Blog nachlesen. Ich werde nie die Abende in Odessas Stadtgarten oder am Strand mit Freunden vergessen, die ich dort gefunden habe und die bis heute wichtig in meinem Leben sind. Als der russländische Krieg gegen die Ukraine ausgebrochen ist, habe ich sie alle sofort kontaktiert. Bis heute habe ich große Angst um die Menschen in Odessa und um diese wunderschöne Stadt, deren Zerstörung ein großer kultureller Verlust für Europa wäre.

„Die Vergangenheit ist ein Brunnen von unbeschreiblicher Tiefe“, sagte der deutsche Schriftsteller Paul Thomas Mann. Stimmst du ihm zu?

Ein schönes Zitat, dem ich zustimme. Auch meine Familiengeschichte ist ein tiefer Brunnen voller Geheimnisse, weil wir kaum Bilder oder Dokumente haben, die zum Beispiel etwas über das Leben meiner Großeltern in der Ukraine zeigen könnten. Sie wurden 1936 von dort nach Nordkasachstan deportiert und lebten bis Dezember 1955 unter Kommandantur in einem Dorf nahe der heutigen Hauptstadt Astana. In das Dorf hatte Stalin Deutsche und andere unerwünschte Personen verbannen lassen. Viele sind in den ersten Jahren dort an Hunger und Kälte gestorben oder wurden erschossen oder inhaftiert.

Auch später war für meine Großeltern eine Rückkehr in ihr deutsches Dorf in der Westukraine nicht möglich. Deshalb wurden auch meine Eltern und ich dort geboren. Im Zuge der Perestroika durften wir als Teil der deutschen Minderheit Kasachstan verlassen. Ich war damals neun Jahre alt und habe noch sehr viele Erinnerungen. 2013 war ich zum ersten Mal seit 1992 wieder in dem Dorf, aus dem ich komme. Das Haus meiner Großeltern stand leider nicht mehr. Aber auf dem Friedhof habe ich noch alle Grabsteine meiner Verwandten gefunden. Meine Eltern sind bis heute mit unseren kasachischen Nachbarn befreundet, die uns bereits einige Male in Deutschland besucht haben.

Wie wichtig ist deiner Meinung nach die Familie in der modernen Welt? Und in Deutschland?

Ich glaube, für meine Großeltern und Eltern war Zusammenhalt in der Familie auch wichtig, damit man unter sowjetischer Diktatur überleben konnte. Man war sehr auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Heute ist das etwas anders. Für mich persönlich ist Familie, und damit meine ich vor allem den engen Kontakt zu meinen Eltern und Geschwistern, sehr wichtig. Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft in russlanddeutschen Familien stärker ist als in Familien ohne Migrationsgeschichte. Man sorgt sich viel mehr um einander.

Zum Beispiel verlasse ich nie mit leeren Händen das Haus meiner Eltern. Ich bekomme immer noch Essen für mindestens drei Tage mit. Das hat auch viel mit ihrer kasachstanischen Prägung zu tun, da die Menschen in Kasachstan in der Regel sehr gastfreundlich und fürsorglich sind. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass russlanddeutsche Eltern viel aufopferungsbreiter sind als andere Eltern, weil für sie Familie und ihre Kinder das Wichtigste sind. Meine Eltern haben immer alles für mich und meine beiden Geschwister getan und tun das bis heute. Ich habe erst als Erwachsene verstanden, welcher Umbruch für sie der Umzug nach Deutschland gewesen sein musste und wie schwierig der Neuanfang in Deutschland war. Ich werde ihnen für immer dankbar sein für alles, was sie für uns getan haben.

Was suchen die Menschen in dieser Welt und worin sehen Sie den Sinn Ihres Lebens?

Ich glaube, jeder Mensch möchte glücklich sein, sucht Erfüllung und Zufriedenheit. Manche Menschen knüpfen diese Ziele aber an – aus meiner Sicht – falsche Parameter wie Geld oder Macht. Ich glaube, glücklich und zufrieden kann ein Mensch sein, wenn erstens dafür bestimmte äußere Bedingungen erfüllt sind: Ein Mensch muss genug zu essen und zu trinken haben, er muss in Sicherheit leben und frei sein in allem, was er tut, damit er überhaupt die Chance auf Glück hat. Sind diese Bedingungen erfüllt, muss jeder Mensch für sich selbst Ziele und Wege finden, um ein erfülltes Leben zu führen. Dabei hilft es, seine eigenen Werte zu kennen und nach ihnen zu handeln. Meine wichtigsten sind Freiheit und Unabhängigkeit.

Am meisten sinnstiftend in meinem Leben ist meine Familie, auch im Beruflichen. Denn auch meine Arbeit hat zum großen Teil mit meiner Herkunft und Familie zu tun. Ich weiß nicht, ob ich mich weiterhin mit dem Thema Russlanddeutsche beschäftigen werde, wenn es meine Eltern eines Tages nicht mehr gibt. Sie sind der Motor für meine Arbeit und gleichzeitig wünschen sie sich oft, ich würde mich mit anderen Themen beschäftigen. Denn die Arbeit zur Deportation meiner Großeltern beispielsweise ist sehr schmerzhaft. Meine Eltern möchten nicht, dass ich traurig bin. Für mich ist es aber ein wichtiger Prozess, all das Unrecht, das meiner Familie widerfahren ist, aufzuarbeiten, damit wir den Schmerz ein für alle Mal loslassen können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Marina Angaldt.

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