„Grab and Run“ heißt der Dokumentarfilm von Roser Corella. Die Filmemacherin aus Barcelona lebt in Berlin und ist nach Kirgisistan gereist, um einen Film über den Ala-Kachuu zu drehen, den Brautraub. Seit diesem Jahr läuft der Film auf zahlreichen internationalen Festivals.

Brautraub ist eine Praxis, die in einigen zentralasiatischen Ländern angewandt wird, wenn ein Mann heiraten soll: Eine Frau wird ausgesucht und eine Gruppe von Männern entführt sie. Im Haus ihrer angedachten Schwiegereltern soll sie dazu gebracht werden, einer Heirat zuzustimmen. In Kirgisistan wird diese Praxis Ala-Kachuu genannt – „nimm sie und renn!“

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Der in Übersetzung gleichnamige Film zeigt Frauen, junge Mädchen, Männer und Familien, die aus eigener Erfahrung vom Brautraub sprechen. Und eine Entführung einer Frau. Dann das frischvermählte Paar wenige Monate später und wie sie ihren Alltag gemeinsam bewältigen.

„Es gibt das Sprichwort: Wenn du einen Fremden heiratest, dann wirst du glücklich“, sagt ein junges Mädchen in einer anderen Szene, das mit ihren Freundinnen gerade über die Vor– und Nachteile eines Brautraubes diskutiert hat. Der Film weckt den Eindruck, dass diese Tradition allgegenwärtig ist und normalisiert wird. Im Gegenzug rüttelt er wach, indem er Bilder zeigt, die nicht normal sein sollten. Ist das nur ein Eindruck aus westlicher Perspektive? Immerhin stimmen viele Frauen in der Dokumentation der Praxis des Ala-Kachuu zu. Wie oft fällt im Film das Wort „Schicksal“? Oder ist es ein Phänomen, das natürlich erscheint, während sichtbar Menschenrechte verletzt werden?

Die Dokumentation zeigt eine Diskussion in der Schule. Eine Jugendliche sagt: „Mädchen sind kein Vieh“. Und immer wieder sind Bilder der Kuh zu sehen. Der Mann, der die Kuh im Stall füttert. Die Kuh mit zusammen gebundenen Vorderhufen, die zwar auf offener Straße geht, aber doch nicht wegrennen kann. Die Kuh, die zu alt ist und jetzt verkauft wird, weil sie acht Kälber geboren hat. Damit löst der Film subtil Bestürzung aus. Aber selbst diese scheint natürlich in besagtem Kontext. Viele weise Ratschläge fallen im Laufe des Films – bei den jungen Mädchen auf der Bank, bei der Hochzeit, bei der Entführung selbst. Eine alte Frau beruhigt die junge, die weint, mit den Worten: „Jede gute Hochzeit beginnt mit Tränen.“

Die Frau, die diesen Film gedreht hat, liebt den Dokumentarfilm und ist ständig auf der Suche nach Geschichten. Berlin ist ihre Basis, aber Reisen braucht sie, um zu verstehen. Ihre Philosophie lautet: Je mehr du reist, desto mehr verstehst du – und desto mehr bemerkst du, dass du eigentlich nichts weißt. Sie hat viel zu erzählen und in ihren Dokumentarfilmen drückt sie sich aus. Wir haben mit ihr gesprochen.

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Roser, du bist ständig unterwegs. Wie bist du letztendlich nach Kirgisistan gekommen? Warum Zentralasien?

Das erste Mal war ich 2012 in Kirgisistan. Ich war zu einem Festival für Menschenrechte in Bischkek eingeladen und habe dort einen dokumentarischen Kurzfilm gezeigt, den ich zu der Zeit gerade gemacht hatte. Für mich war das eine Entdeckung: Kirgisistan schien mir ein sehr interessantes Land zu sein. Außerdem habe ich dort zum ersten Mal von dieser Praxis gehört: Ala-Kachuu. Vor ein paar Jahren habe ich dann angefangen, mit dem Stoff zu arbeiten. Ich habe zu diesem Thema recherchiert und meine erste Reise für „Grab and Run“ 2015 gemacht.

Gab es eine bestimmte Situation, die dich dazu veranlasste, einen Film über gerade dieses Thema Brautraub zu machen?

Ich habe eine Reportage von Vice darüber gesehen, von der mir viele Menschen erzählt haben. Aber auf journalistischer Ebene gefällt mir der Ton des Films nicht. Ich finde, er behandelt das Thema mit zu wenig Respekt – der Journalist hat meiner Meinung nach wenig adäquate Kommentare gemacht. Das war ein ausschlaggebender Punkt. Daraufhin, und das war ein weiterer, habe ich mit einer Frau des Festivals in Bischkek gesprochen, die mir sagte: Ja, ja, das ist eine Tradition in meinem Dorf, fast alle Frauen dort wurden entführt. Es schien mir, als würde sie diese Tradition vor mir ein wenig rechtfertigen.

Diese Eindrücke haben bei mir das Interesse geweckt, mich weiter mit dem Thema zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, warum eine Gesellschaft einer Tradition mehr Wert verleiht, als einer moralischen Frage. Das wollte ich verstehen.

Das Thema Brautraub ist schwierig und vielleicht steht hier besonders die westliche Einstellung der kirgisischen Tradition entgegen. Die Rolle der Frau wird in Europa anders gesehen, als hier. Hast du während deiner Arbeit eine Distanz empfunden?

Auch Frauen sind an der Entführung beteiligt: Eine Verwandte des Bräutigams legt der Entführten das Kopftuch an und sagt: “Mein Liebling, schlussendlich wirst du glücklich sein.” (Filmstill) | Foto: Roser Corella

Natürlich, und das ist immer so. Wenn ich in anderen Ländern arbeite, die eine Kultur haben, die sich so von meiner eigenen unterscheidet, besteht ein sehr wichtiger Teil meiner Arbeit darin, mich auf die jeweilige Situation einzulassen. Für „Grab and Run“ musste ich verstehen, dass diese Praxis als Teil eines Systems, bestehend aus Glauben und Werten, die anders als meine sind, funktioniert.

Ich kann als Westeuropäerin nicht an einen anderen Ort kommen und örtliche Praktiken verurteilen. Natürlich ist der Dokumentarfilm aus meiner Perspektive gemacht, aber immer mit Respekt und dem Versuch, zu verstehen. Diese Praxis ist offensichtlich ein Attentat auf die Entscheidungsfreiheit der Frau über ihr eigenes Leben und ihre Rechte. So verstehen wir es. Daher ist die Arbeit des Dokumentalisten in anderen Ländern immer doppelt – sie bedeutet, eine Geschichte zu erzählen und gleichzeitig den kulturellen und historischen Kontext im Blick zu behalten.

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Für mich war es sehr wichtig, all die unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen, das gesamte System aus Glauben und Werten zu erklären. Ich wollte verstehen, warum die Frauen letztendlich zustimmen und warum sie bezüglich der Hochzeit einen sozialen Druck verspüren. Es kommt letztlich vieles zusammen, das zu der Rolle führt, welche die Frau in dieser Gesellschaft eingenommen hat.

Manche Traditionen sind noch ein Erbe der nomadischen Zeit der Kirgisen und sind immer noch sehr präsent in ihrer heutigen Gesellschaft – zum Beispiel die Geste, Brot vor die Türschwelle zu legen: Wer darauf tritt, hat sein ganzes Leben lang Pech. Das ist nur ein Beispiel von vielen, die dazu führen, dass die Frauen die Praxis des Ala-Kachuu früher oder später akzeptieren und dass sie glauben, das sei normal oder ihr Schicksal.

Manchmal sehe ich Reportagen von Journalisten, die nur zwei Tage oder eine Woche in einem anderen Land gewesen sind und ohne jegliche Scham über solche Praktiken schreiben – das ist doch in einem gewissem Sinne gefährlich. Ich glaube, dass mir das die Zeit über ziemlich klar gewesen ist. Und ich hoffe, dass das auch in dem Dokumentarfilm sichtbar wird.

Dein Dokumentarfilm zeigt unter anderem eine Entführung. Diese Bilder sind heftig.

Ich wollte in meinem Dokumentarfilm alle Perspektiven zeigen, auch die der Männer, der Familien. Und ich wollte zeigen, wie die Gesellschaft diese Praxis rechtfertigt und wie die Frauen außerdem ihre Rolle als Frau innerhalb dieser Gesellschaft akzeptieren. Das war für mich sehr wichtig: Wie verteidigt die Gesellschaft diese Praxis?

Aber gleichzeitig wollte ich nicht, dass die Zuschauer mit der Empfindung zurückbleiben: Ok, so schlimm ist es nicht. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, dass eine Entführung zu sehen sein muss. Die Situation, die im Film zu sehen ist, wurde mit einem Handy aufgenommen, von einem der Freunde des Bräutigams. Ich weiß, dass das heftig ist. Das ist mein Anteil an der Anklage. Ohne diese Szene wäre das Resümee des Films vielleicht zu neutral. Und daher war auch meine Frage: In welchem Ton erzähle ich diese Geschichte?

Wie bist du an das Video mit der Entführung gekommen?

Ich habe drei Monate lang in zwei Dörfern nahe Karakol gearbeitet und dort wussten alle, dass ich mich mit diesem Thema beschäftige. Eines Tages sagte mir ein junger Mann: Schau, einer meiner Freunde hat geheiratet und ich hab es aufgenommen, willst du es sehen? Und er hat mir das Video angeboten. Und da ich genau solche Videos gesucht habe, fragte ich ihn, ob ich es verwenden könne. Für ihn war das kein Problem – man sieht in der Szene ja, wie die Freunde des Bräutigams lachen und Witze machen. Seine einzige Bedingung war, es nicht auf Youtube zu stellen, weil das verboten ist, damit sein Freund keine Probleme bekäme. Für mich war das natürlich perfekt!

Andererseits war das auch kompliziert für mich – ich wollte ja nicht zur Komplizin der Entführung werden. Ich fand es schon schwierig, den Jungen zuzuhören, wie sie darüber sprachen, jemanden zu entführen. Daher glaube ich, dass ich die Szene nicht so hätte filmen können, wie sie mit dem Telefon des Mannes gefilmt wurde. Es ist nämlich für mich auch überraschend, mit was für einer Natürlichkeit er die Szene gefilmt hat – das ist sehr interessantes Material.

Für mich war es auch wichtig, das Paar nach ihrer Entführung zu interviewen. Nach fünf Monaten kam ich zu ihnen – und sie war schwanger. Zum Zeitpunkt ihrer Entführung hatte sie ihre Brille auf und sah mit ihrer Jacke aus wie eine Studentin, sie hatte Pläne, im Ausland zu arbeiten und sich auf gewisse Weise unabhängig zu machen. Und jetzt war sie verheiratet: Wir sehen sie in ihrer Schürze beim Kochen, schwanger und absolut in der Rolle einer verheirateten Frau. Dass sie das akzeptiert, ist sehr wichtig, damit die Praxis weiterhin existiert. Mich hat außerdem gewundert, wie all die anderen Frauen an diesen Entführungen teil hatten, das war für mich ganz schön schockierend.

Im Film sind viele Symbole zu sehen. Die Bilder würden in anderen Situationen andere Assoziationen hervorrufen, aber im Kontext des Films wurden sie alle für mich zum Symbol dieser Praxis, des Brautraubs. Tiere, zum Beispiel, waren für mich immer eine Metapher für die Frau. An einer Stelle im Film wird gezeigt, wie Männer auf Pferden das traditionelle Spiel Kok Boru spielen, in welchem sie um ein totes Schaf kämpfen. Im realen Leben können die ZuschauerInnen fasziniert sein von der Schönheit und Echtheit des Spiels, von der Ernsthaftigkeit der Reiter oder ihrem Talent, die Pferde zu dominieren. Im Kontext dieses Dokumentarfilms über den Brautraub wird selbst diese Szene zum Symbol.

Ein traditionelles Reitspiel, genannt Kok Boru: Männer auf Pferden spielen um ein totes Schaf ohne Kopf. (Filmstill) | Foto: Roser Corella

Ja, das ist in jedem Fall beabsichtigt. In dem Dokumentarfilm spiele ich viel mit Bildern und verwende sie als Metaphern für eine Gesellschaft der Männlichkeit, in welcher der Mann der ist, der entscheidet, der spielt, der Normen setzt. Und die Frau ist jene, die, wie eine Besiegte, wie die Tiere, ihr Schicksal annimmt und der Herde folgt.

Die Frau hat hier keine Entscheidungsmacht. Man sagt ihr, wann sie heiraten soll, wie, mit wem. Und die Männer fühlen die Notwendigkeit, ihre Männlichkeit zu zeigen, auf ihren Pferden, in diesem Spiel – das sagt ebenso viel über diese Gesellschaft aus. Letztendlich ist das ein System von Männern und für Männer. Und in dem Sinne stimmt es, dass ich in dem Film viel mit Bildern als Metaphern gespielt habe. Die Szene mit den Männern auf den Pferden hat vielen ZuschauerInnen gut gefallen, weil sie tatsächlich sehr schön ist, aber genau deshalb denke ich, dass in diesem Thema auch eine Widersprüchlichkeit existiert. Für mich zumindest lebt die Gesellschaft in Widersprüchlichkeit. Und das finde ich auch wichtig, zu zeigen.

Als Ausländerin wurde ich in Kirgisistan aber immer gut behandelt, ich hatte nie einen Moment, in dem ich das Gefühl hatte, in Gefahr zu sein. Ich muss über diese Gesellschaft sagen, dass sie auch wunderbar ist, gastfreundlich, mit guten Werten – daher ist es schade zu sehen, wie die Frauen hier behandelt werden. Ich hoffe nur, dass mit den Jahren diese negativen Teile verschwinden und sich vielleicht andere mehr und mehr etablieren.

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Du hast auch als Videojournalistin beim Fernsehen gearbeitet. Möchtest du mit deiner jetzigen Arbeit, den Dokumentarfilmen, auch eine Alternative zu den herkömmlichen Kommunikationsmedien schaffen?

Ja, ich glaube stark an den Dokumentarfilm und insbesondere an die kreative Dokumentation. Wir, die wir solche Filme produzieren, geben eine mögliche Perspektive auf ein Thema, welche die Medien eventuell nicht geben – oder sprechen generell über etwas, worüber öffentlich überhaupt nicht gesprochen wird. Meinen Dokumentarfilm habe ich verschiedenen Fernsehsendern angeboten, aber die Antwort, die ich bekommen habe, ist: Nein, dieses Thema ist nicht interessant für das Fernsehen, es ist zu exotisch.

Die Themen gehen letztendlich durch die Mode und momentan wollen alle über Syrien sprechen. Traurig ist, dass sich damit die Welt auf einige wenige Länder reduziert, je nach Zeit. Das ist gefährlich. Außerdem glaube ich, dass das Fernsehen es verpasst, viele Nuancen der Geschichten, die es erzählt, und der Gesellschaften, die es abbildet, zu zeigen. Bei dem Dreh meiner Dokumentarfilme bin ich auf keinen Fernsehsender angewiesen und kann auch mehr Zeit mit den Menschen verbringen, mit denen ich arbeite. Ich meine, dass der Dokumentarfilm andere Perspektiven geben kann.

Ich bin mir sicher, dass man in Europa wenig bis gar nichts über das Thema Brautraub weiß. Auch glaube ich, dass man sogar relativ wenig über Zentralasien weiß. Daher: Was könnte es bedeuten, die Menschen in anderen Ländern über den Ala-Kachuu zu informieren? Glaubst du, der Ala-Kachuu ist letztlich etwas Einzigartiges?

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“Stell dir vor, du wirst von einer wohlhabenden Familie entführt.” Junge Frauen in einer Diskussion über den Brautraub. (Filmstill) | Foto: Roser Corella

Der Ala-Kachuu ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass in vielen Ländern der Welt die Frauenrechte nicht respektiert werden. Es ist letztendlich ein universelles Thema. Ich sehe, wie sich das in den unterschiedlichen Ländern der Welt in unterschiedlichen Praktiken ausdrückt: Die Entscheidungsfreiheit der Frau über ihr eigenes Leben wird beschränkt. In diesem Fall ist es der Ala-Kachuu in Kirgisistan. In anderen Ländern sind es andere Themen, andere Praktiken. Es ist die Dominanz der männlichen Macht über die Frauen.

Daran muss weiter gearbeitet werden. Und deshalb möchte ich den Film zeigen, in Kirgisistan, in Spanien, in Deutschland, wo auch immer. Der Fokus der öffentlichen Medien liegt immer auf determinierten Regionen. Momentan gibt es andere Themen. Aber es gibt noch viel mehr wichtige Sujets, über die gesprochen werden muss. Das wird manchmal vergessen.

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Möchtest du, dass er auch in Zentralasien gezeigt wird? Und was könnte das hervorrufen?

Tatsächlich wurde ich zu einem Festival für Menschenrechte in Bischkek eingeladen, das im November 2017 stattfinden wird. Es heißt BirDuino. Meinen Film habe ich schon bei einem ähnlichen Festival in Prag gezeigt. Und hier war eine Organisatorin des Festivals aus Bischkek, die mir sagte, dass sie es sehr interessant fände, den Film in Kirgisistan zu zeigen. Egal ob hier in Europa oder in Kirgisistan ist das Thema Frauenrechte immer aktuell. Es ist ein Thema, das sich in jedem Land wiederholt, wenn auch in unterschiedlichen Formen. Aber um einen wirklichen Einfluss zu haben, muss der Film auch in Kirgisistan gezeigt werden, am Ort selbst, damit er Effekt zeigt. Aber da bin ich dran, im November bin ich in Bischkek.

Roser, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte I. N.

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