Seit der erste überfallene, ausgeraubte, verprügelte, blutige Ausländer höchstpersönlich vor mir stand, gehe ich nach sechs Uhr abends nicht mehr alleine auf die Straßen Astanas.
Ich habe den Fehler gemacht, meinen Eltern davon zu erzählen. Mama unterstützte den Ausdruck ihrer Panik und die Mahnungen zur Vorsicht mit einem wohl gesetzten: „Und Papa denkt das auch.” Mütterbelehrungen häufen sich im Laufe eines Jugendlichenlebens inflationär an.
Nun ist noch vor der praktizierten Liebe zur deutschen Sprache und Literatur das Allerbeste an meiner Arbeit im Sprachlernzentrum Astana: Ich lerne Menschen kennen. Das Adressbuch meines Mobiltelefons umfasst einen sehr großen Teil der fortgeschritten Deutsch sprechenden Welt Astanas. Ich habe hinreißende, kluge kasachstanische Freundinnen – junge Akademikerinnen, die mir das Gefühl geben, wir schwatzen nur teetrinkend, dabei trainieren wir ein DAAD-Bewerbungsgespräch. Meine Freundin Ainagul kennt Wörter wie „spießbürgerlich”, „Bildungsbürger” und „schwermütig” – versteckt sich hinter ihren lächelnden kasachischen Augen etwa eine Deutsche?
Unser Kursteilnehmer Bachut kommt einmal in der Woche vor dem Kurs zu mir, um mir die europäischen Fußballergebnisse anzusagen. Er kennt alle Städte- und Ländernamen und alle Ergebnisse. Mit einem Klopfen auf sein Herz und einem strahlenden Lächeln signalisiert er mir, wie sympathisch ihm die eine oder andere Mannschaft ist. Seit er „Lieblingsmannschaft” sagen kann, verwendet er das Wort eifrig. Nachdem wir in Maritas Kurs die Lektion „Aussehen und Persönlichkeit” und die Steigerung der Adjektive erfolgreich hinter uns gebracht haben, kann Marita ihre lebenserfahrenen Geschlechtertheorien auch auf Deutsch verbreiten – Zitat: „Kleine Männer sind sehr sexualisch, aber kahle, kleine Männer sind am sexualischsten!”
Einer unserer Lieblingsschüler aber ist Wadim. Im letzten September hat er begonnen, Deutsch zu lernen. Wadims Motivation, die Prüfung „Start Deutsch 1“ abzulegen – deren Bestehen ist nötig, um nach Deutschland auszureisen – ist die beste, die man nur haben kann: Er möchte zu seinem kleinen Sohn, der schon in Deutschland lebt. Es fiel ihm nicht leicht, aber er war fleißig und sehr neugierig. Er kennt lauter komische deutsche Wörter, die eigentlich kein Mensch braucht. Im November hat er die Prüfung bestanden, und besonders für ihn haben wir uns gefreut. Wie sehr sich aber Wadim gefreut hat, kann kaum jemand glauben, dem wir es erzählen: Zur Feier seines Bestehens schenkte er uns eine riesige cremige Torte, er bringt uns manchmal hausgemachte Krautsalate und Tomatensaft von seiner Mutter – und erzählt uns, er vertrage keinen Kapusta, könne das seiner Mutter aber nicht sagen –, er hat unsere Tür repariert und holt uns ab und zu mit dem Auto ab, damit keine von uns alleine zur Bushaltestelle gehen muß.
Seit die Sicherheitslage in Astana problematischer geworden ist, haben wir eine geregelte Abmachung: Wadim holt mich viermal in der Woche abends an der Tür des Sprachlernzentrums ab und fährt mich bis vor meine Haustür. Er will kein Geld – woran ich mich nicht halte – er möchte nur Deutsch mit mir sprechen, während wir fahren. Dann erzählt er mir von seinem Leben, seinem Sohn, seiner Frau: „Das Hexe! Nein! Die Hexe!”
Wenn ihm etwas nicht einfällt und er sich darüber ärgert, nimmt er manchmal die Hände vom Lenkrad, um sie über dem Kopf zusammenzuschlagen. Beim Linksabbiegen auf den Straßen Astanas ist das eigentlich keine gute Idee. Doch ich bin glücklich, ihn kennen gelernt zu haben. Mama und Papa sind beruhigt. Auch, wenn ich mich dann manchmal frage: Von einem Verbrecher überfallen, ausgeraubt und blutig geschlagen zu werden oder im Straßenverkehr von Astana umzukommen – welche Wahrscheinlichkeit ist wohl höher?
Maria Reinhardt
08/02/08