Statt sich vom Lockdown ausbremsen zu lassen, hat Lucas Chasin die Zeit sinnvoll genutzt. Der junge Filmemacher aus den USA hat aus der Distanz einen Dokumentarfilm über die Geschichte und Politik Kasachstans recherchiert, Bildmaterial aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengesucht und auf YouTube hochgeladen. Unser Autor Max Osterried hat sich mit ihm über seinen Werdegang, seine Methoden und seine Beweggründe unterhalten.
Du scheinst schon früh daran interessiert gewesen zu sein, ein Filmemacher zu werden. Wann hattest du diese Idee?
Ich habe früh realisiert, dass ich ein Filmemacher oder besser ein Autor und Geschichtenerzähler werden will. Schon mit fünf wusste ich, dass ich Geschichten liebe und dass ich sie auch erzählen will. Je älter ich wurde, desto mehr hat sich diese Entscheidung gefestigt. Gleichzeitig hatte ich parallel immer dieses Interesse für Geopolitik und internationale Beziehungen. Und als ich die Schullehrer hinter mir gelassen hatte, die eher aus dem Buch vorlasen und uns Daten auswendig lernen ließen, anstatt Begeisterung zu wecken, merkte ich, dass die Historie eigentlich die großartigste Geschichte ist, die je erzählt wurde.
Es ist faszinierend, wie viele Wendungen sie hat, wie viele Akteure dabei mitspielen und wie viele Perspektiven es auf ein und dasselbe Ereignis geben kann. Frage irgendjemanden auf der Welt nach seiner Sicht auf ein Ereignis in der Geschichte, und du wirst eine ganz andere Perspektive kennenlernen als deine eigene. Und so verschmolzen mein langjähriger Berufswunsch und meine Passion für Geschichte und Politik.
Du legst den Fokus deshalb besonders auf Länder, die in der westlichen Debatte eher außen vor gelassen werden. Verlierst du da nicht die zentralen Akteure und das große Ganze aus den Augen?
Ich wähle für meine Videos Länder aus Regionen aus, für die ich mich interessiere. Und auch wenn ich mich dann auf ein Land beschränke, heißt das nicht, dass ich andere Länder und Zusammenhänge außer Acht lasse. Die wichtigen Gruppierungen und Kulturen, die großen Reiche und Heerführer beschränken sich in den meisten Fällen nicht auf eine Nation. Sie prägen die gesamte Region und verflechten die Länder so sehr untereinander, dass man sehr wohl einen Querschnitt des großen Ganzen bekommt.
Dann ist Kasachstan für dich der ideale Querschnitt durch Zentralasien?
Ich hatte in der Tat das Gefühl, dass Kasachstan sowohl für die Zuschauer als auch für mich eine hervorragende Option wäre, in die zentralasiatische Geschichte einzusteigen. Dabei hat mein Interesse für Geopolitik eine große Rolle gespielt. Hier in den USA reden wir viel über das „asiatische Jahrhundert“. Chinas Macht wächst, Russlands Macht wächst, die amerikanische Hegemonie wird angegriffen.
Eines der wenigen Dinge, die ich über Kasachstan wusste, war, dass es ein zentraler geopolitischer Faktor, eine Pufferregion zwischen diesen Mächten darstellt. Aber während in den amerikanischen Medien gerne über China, Russland und auch Indien geredet wird, wird Kasachstan im öffentlichen Diskurs eher außen vor gelassen. Aber mit nur einem grundsätzlichen Verständnis der Geografie der Region dachte ich mir schon, dass Kasachstan eine deutlich wichtigere Rolle spielen muss, als zugegeben wird. Und als ich dann vom kasachischen Impfstoff hörte, wurde ich in diesem Glauben bestärkt. Ich meine, ein eigener Impfstoff ist wirklich eine Leistung. Warum wird das nicht mehr beachtet?!
Vom Interesse zum gut recherchierten Video ist es aber noch ein langer Weg. Woher nimmst du die Informationen, die du in deinen Videos verarbeitest?
Ich fange mit meinem Enzyclopedia Britannica an, was eine sehr gute Übersicht und viele Details bietet, ohne fragwürdiges Halbwissen aufzunehmen. Dort gehe ich den entsprechenden Artikel durch. Die Artikel behandeln jedes Thema einer Nation, sei es Geographie, Kultur, Demographie, die Wirtschaft mit allen Exporten und Importen und so weiter. Ich kategorisiere das Wissen, das ich in mein Video einbauen möchte, und filtere Inhalte, die zu viel wären oder für die Geschichte, die ich erzählen will, nicht relevant sind, heraus. Sobald ich die Themen und eine Grundstruktur herausgearbeitet habe, stelle ich genauere Nachforschungen an. Ich lese Artikel und Websites, bis ich mir sicher bin, ein hinreichendes Verständnis des Landes und seiner Geschichte zu haben. An diesem Punkt habe ich mehrere hundert Seiten gelesen und Dutzende Seiten von Notizen erstellt. Die muss ich dann noch mehrmals überarbeiten und komprimieren, bis ein Skript von eineinhalb bis drei Seiten entstanden ist.
Das ist der wissenschaftliche Teil. Aber wenn das Skript geschrieben und die Erzählung aufgenommen ist, habe ich eine ganz andere Aufgabe. Nämlich Fotos und Videos zu finden. Das braucht nochmal eine ganze Weile. Ich finde nämlich, dass bei vielen anderen Geschichtskanälen auf YouTube die Bilder nicht unbedingt zum Narrativ passen. Natürlich ist es nicht einfach, passende Bilder zu finden. Man kann ja nicht einfach rausgehen und ein paar Fotos von einer Schlacht schießen, die vor 300 Jahren stattgefunden hat. Aber ich möchte, dass meine Bilder nicht nur Füllmaterial sind, sondern die Tonspur ergänzen und vollenden, und daher investiere ich viel Zeit darin, die passenden Bilder aus den verschiedensten Quellen zusammenzusuchen.
Was mir mein Leben etwas erleichtert, ist, dass ich keine Rücksicht auf Bildrechte nehmen muss, weil meine Videos nach US-Recht davon ausgenommen sind, da sie Bildungswerke sind und ich daraus keinen Profit ziehe.
Was war der spannendste Fakt über Kasachstan, den du herausgefunden hast?
Vor meinen Nachforschungen wusste ich nichts über Kasachstan. Was mir von Anfang an gefallen hat, war die Stammesgeschichte. Ich liebe die Vorstellung der nomadischen Stämme und ihrer Lebensart. Die Reiter und Viehherden, die verschiedenen Völker, die sich begegnen und Krieg führen, wie zum Beispiel mit den Mongolen, aber sich auch vermischen und diese einzigartige Nationalität erschaffen.
Ein anderer Punkt war der Fakt, dass Kasachstan immer inmitten von anderen Reichen und Nationen lag. Im Gegensatz zu den USA, denen es durch ihre Lage leicht fällt, andere Mächte auf Abstand zu halten, mussten die Kasachen stets ausländische Einflüsse und auch Machtinteressen gegeneinander ausspielen. Die Mongolen machen ihnen Probleme, also nähern sie sich den Russen an. Und auch heute, wo die Kasachen ihre eigene Nation haben, müssen sie sich gut zwischen den Mächten in der Region positionieren. Und gerade das ist einer der Gründe, warum ich mich so für kasachische Geschichte interessiere. Es ist eine Geschichte von einem Volk, das es geschafft hat, trotz seiner anspruchsvollen geographischen Lage der gesamten Region seinen Stempel aufzudrücken.
Zu jedem guten Video gehört aber neben dem Bildmaterial und dem Narrativ auch Hintergrundmusik. Online gibt es viel positive Resonanz für die Musik hinter deinen Videos.
Die Musik haben mein Ex-Studienkollege Duncan und ich selbst komponiert. Wir versuchen uns dabei von traditioneller Musik und traditionellen Instrumenten des jeweiligen Landes inspirieren zu lassen.
Da sind wir natürlich ein wenig eingeschränkt, weil nicht jedes Instrument der Welt in dem Programm zu finden ist, mit dem wir die Musik produzieren. Trotzdem denke ich, dass es uns gut gelungen ist, sozusagen den Klang eines Landes einzufangen und in unsere Musik einzubauen. Außerdem flechten wir einzelne musikalische Themen aus den Nationalhymnen ein. Duncan nimmt sich oft einzelne Töne oder Tonfolgen vor und zaubert ein ganz neues Werk daraus. Zuletzt passen wir die Musik noch dem Narrativ an. Zum Beispiel beschleunigen wir sie, wenn es um eine Schlacht geht, oder fügen ein wenig Dramatik hinzu, wenn Schlüsselmomente der Geschichte gezeigt werden.
Du nimmst dein Projekt sehr ernst. Wenn es auf der Welt eine Sache gäbe, die du mit deinen Videos ändern könntest, was wäre es?
Ich hoffe, dass sich das nicht klischeehaft oder typisch anhört. Aber mein Hauptziel ist es, Menschen daran zu erinnern, dass, egal woher man kommt oder welche Perspektive man auf das Leben hat, wir alle unsere Menschlichkeit teilen. Ich denke, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir uns darauf besinnen würden, dass es trotz aller kultureller Verschiedenheiten und legitimer Spannungen mehr gibt, das uns verbindet als uns trennt. Und wieso sollten wir das nicht gemeinsam machen? Die Geschichte auf Makroebene definiert immer unser Handeln auf Mikroebene. Die neuen Technologien haben ein ungeheures Potential, das wir ausschöpfen könnten, um uns aneinander anzunähern. Es ist mir klar, dass wir so nicht alles Leiden sofort abschaffen und alle Konflikte einfach so beilegen können. Wahrscheinlich passiert es nicht in meiner Lebenszeit, vielleicht auch nie. Aber wir bauen an einer Brücke, und ich möchte einen Stein für diese Brücke beitragen.