Früher war alles besser! Wir wissen, dass das nicht stimmt. Aber vieles war anders. Und manches war einfacher. Zum Beispiel, eine Meinung zu haben. Der Mensch will es so, dass er klar für oder gegen etwas sein kann und dass sich das auch mit möglichst wenig Worten ausdrücken lässt. Wie ließe sich sonst eine Aussage auf ein Demonstrationsplakat schreiben oder an eine Häuserwand sprayen? Gerne würden wir mit einer Meute Gleichgesinnter unsere Meinung im Chor skandieren. Alle sind sich einig: „No War!”, „Kein Blut für Öl” oder „Brot statt Böller”. Das waren die Zeiten, in denen man noch mit Stammtischparolen Eindruck schinden konnte. Man fiel auch nicht negativ auf, wenn man zur Untermalung der Meinung die Faust auf den Tisch sausen ließ. Mit lautem „Jawohl!” und „Genau!” durfte man polarisieren, bis die Kneipe schloss. Diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage ist alles so verflixt differenziert. Beim Ausdrücken unserer Meinung verhaspeln wir uns in drei bis fünf Nebensätzen, unter vier Kommata geht gar nix. Kaum haben wir Stellung bezogen, weichen wir unsere Position gleich wieder durch ein „eigentlich”, „an sich” oder „es sei denn” auf. Nicht mal die Mülltrennung schafft es mit einem deutlichen DAFÜR oder DAGEGEN. Grundsätzlich ist es natürlich wichtig, Müll zu vermeiden. Und der Grundgedanke, den Müll zu trennen, ist auch an sich gut. Aber in der Praxis zeigt sich, dass das System viele Mängel aufweist. Einerseits kann Recycling betrieben werden. Andererseits verbraucht der Recyclingvorgang auch wieder Energie, so dass man am Ende gar nicht mehr genau weiß, was nun besser ist.
Vieles, was früher eindeutig böse war, hat sich in eine Grauzone von Vor- und Nachteilen, Ein- und Zugeständnissen geflüchtet. Als aufgeklärter Weltbürger hat man Verständnis für andere Sichtweisen und Lebensformen. Die Grenzen lösen sich in einem einzigen großen Kompromiss auf und die Diskussionskultur erreicht seinen Höhepunkt. Alle reden miteinander über alles. Und jetzt haben wir in Deutschland auch noch eine Große Koalition. Der letzte laute Ruf der Bevölkerung forderte eine ordentliche Opposition. Dann könnte man sich ihr anschließen oder sich dagegen stemmen. Es sorgt schon länger für allgemeine Unzufriedenheit, dass die Grenzen der politischen Parteien mehr und mehr verschwimmen. Beleidigt und trotzig haben schon viele ihrer Partei den Rücken gekehrt. Kaum einer mag sich noch mit einer Partei zu identifizieren. Schon lange geht keiner mehr aus Überzeugung zur Wahl, nur noch aus demokratischem Pflichtgefühl. Betreten und zerknirscht kommen die Wähler aus den Wahllokalen. Auch Freunden sagt man nur ungern und hinter vorgehaltener Hand, für welche Partei man gestimmt hat. Vertrauenswürdige Politiker und passable Programme muss man sich aus allen Parteien zusammenklauben. Und auf der Suche nach wahren Persönlichkeiten landet man sehr schnell in der Vergangenheit. Mit einem großen Seufzer erinnert man sich an Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Richard von Weizsäcker. Wo waren wir? Ach ja, eine wirkliche Opposition fehlt! Darin sind wir uns alle einig. Aber kaum tritt eine auf die Bühne, wird sie von dem Publikum mit der neuen kritischen Haltung ausgepfiffen. Zu radikal und zu einsilbig, lautet der Vorwurf. Nicht wirklich ernst zu nehmen. Und da hätten wir sie wieder, die verschachtelte Argumentation, die eine klare Polarisierung zunichte macht. Dieser Ruf war ein letztes Aufbäumen, aber im Grunde genommen haben wir sie schon längst akzeptiert, die Große Koalition. Wir bejahen die Chance, die darin steckt. Denn mit der modernen Weltsicht ist alles eine Chance und Herausforderung. Aber bitteschön, wogegen kann man denn noch guten Gewissens sein, wenn man nicht einmal mehr über das Wetter schimpfen darf?
20/01/06