Von den über tausend Orten mit Felszeichnungen in Kasachstan befindet sich der bedeutendste im Südosten des Landes 170 Kilometer nordwestlich von Almaty: Die Schlucht von Tamgaly erzählt mit ihren Felszeichnungen eine dreitausendjährige Siedlungsgeschichte und wurde 2004 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Diese „Kirche unter freiem Himmel“ ist damit das zweite Weltkulturerbe in Kasachstan neben dem Mausoleum von Khoja Ahmed Yasawi in Turkestan. Anfang August wurde jetzt offiziell das dazugehörige Museum in Tamgaly eröffnet.

/Bild: Julia Burkhart . ‚Etwa fünftausend Felszeichnungen finden sich in Tamgaly.’/

Bevor der moderne Mensch gläserne Hochhäuser mit Klimaanlage und Synthetik-Fußboden mitten in die Steppe stellte, durchzogen Hirten- und Nomadenvölker die Weiten Zentralasiens. Ihr Leben spielte sich nicht zwischen ausgedienten koreanischen Linienbussen und Schreibtischstühlen ab, sondern zwischen ihren Schafherden und der Jagd auf Antilopen.

Wenn sie Hilfe für Probleme suchten, die sie alleine nicht lösen konnten und in ihren Augen nur eine übermenschliche Kraft helfen konnte, gingen sie zum Beten nicht in die Moschee oder in die Kirche, sondern zu bestimmten Stellen in der Steppe, in denen sie eine besondere Kraft spürten. So auch die Menschen, die auf ihren Wanderungen vor etwa 3.000 Jahren in die Schlucht von Tamgaly kamen. Diese Schlucht liegt 170 Kilometer nordwestlich des heutigen Almaty im Kreis Zhambyl und gehört zu den letzten hügeligen Ausläufern der Chu-Ili Berge, bevor diese im Nordwesten in die karge Betpak-Dala, die „Hungersteppe“, übergehen. Noch lange bevor es die ersten Menschen gab, prägten die Kräfte der Natur die Landschaft von Tamgaly: Die gnadenlos scheinende Sonne heizte die Felsen auf, brannte sie schwarz, ließ sie auseinanderbrechen, Wasser reagierte mit Luft und übersäte die Steinbrocken mit roten Flecken.

Mythen und Weltbilder auf Felsen verewigt

Für die Menschen, die im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in die zentralasiatische Steppe kamen, stellten diese Felsbrocken weit mehr dar als in der Landschaft verstreute Steine – sie nahmen Werkzeuge zur Hand und ritzten Bilder in sie ein. Sie bildeten ihre Vorstellungen davon ab wie die Welt funktioniert, was sie bewegte, was ihr Leben ausmachte: Jäger, die Antilopen umkreisen, trächtige Kühe, Pferde, Ornamente, mit Fell bekleidete Schamanen, religiöse Rituale und erotische Szenen prägen die frühen Petroglyphen – die wissenschaftliche Bezeichnung für Felszeichnungen – aus der Bronzezeit. Die Nomaden- und Hirtenvölker siedelten in Tälern unweit der Schlucht, wo sie Trinkwasserquellen, Schutz vor Wind und plötzlichen Angriffen anderer Völker fanden. Die Tamgaly-Schlucht war ihre heilige Stätte, eine Kirche unter freiem Himmel. Die Einheimischen nennen sie noch heute „Sonnentempel“. Wie die Landschaft prägte die Sonne auch das Leben der Menschen, und so ist es kaum verwunderlich, dass sie zahlreiche Abbildungen einer mystischen Figur mit Strahlen um den Kopf, vielleicht eines Sonnengottes, in ihrer heiligen Stätte verewigten. Woher die ersten Völker gekommen waren, die in der Nähe von Tamgaly siedelten, ist nicht vollständig geklärt. Archäologen gehen davon aus, dass sie indoeuropäischer Abstammung waren und bereits schnelle Pferde und Kampfwagen besaßen. Die folgenden Generationen der im Tal siedelnden Völker – Saken, Wusunen, Turkvölker und ihre kasachischen Nachfahren – erweiterten die Felszeichnungen mit ihren eigenen Weltbildern bis in die heutige Zeit. Sie alle spürten die besondere Energie und suchten das Tal als Pilgerstätte auf.

In Sowjetzeit von Archäologen entdeckt

Drei Jahrtausende später, genauer im Jahr 1957, als die Menschheit bereits in großen Staaten lebt und ihre Vorstellungen von der Weltordnung nicht mehr in Steinplatten einritzt, sondern über Unterwasserkabel quer über den Globus verbreitet, stoßen sowjetische Archäologen zufällig auf einige der Steintafeln. Längst stehen große Teile von ihnen nicht mehr auf den Hügeln, erzählen keine Geschichten mehr, sind nicht umhüllt von einer spirituellen Aura, sondern von Heu und Kuhmist. Sie haben Verwendung gefunden auf dem Boden von Viehställen.

Die Archäologen machen sich auf, das Tal weiter zu erforschen und stoßen auf ihren Streifzügen auch auf die Grabstätten: kleine Gruben, die an der Oberfläche von Steintafeln umrundet, die Grabwände im Inneren mit Tiermotiven verziert sind. Auffällig ist die Größe der Gräber, in die kein Mensch ausgestreckt hineinpassen würde. Die Gräber stammen laut Aussagen der Wissenschaftler aus der Bronzezeit, dem 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und sind so klein, weil die Menschen damals in Embryonalstellung beerdigt wurden: Wie sie im Mutterleib heranwuchsen, wurden sie auch dem Leib der Mutter Erde wieder zurückgegeben. Manche Gräber sind in einem Halbkreis angeordnet, bis heute ein Rätsel für die Forscher und eines der ungelüfteten Geheimnisse von Tamgaly, erzählt ein Touristenführer Besuchern im Jahr 2010. Manch anderes Geheimnis scheint aufgedeckt, so auch das der Steinplatten, die auf der Kante der Schlucht in einer Reihe stehen: Gleich einem steinernen Bilderbuch erzählen sie die Legende von der Entstehung der Welt. „Am Anfang war das Chaos“, rekonstruiert der Touristenführer die Geschichte, „bis der Sonnengott auf die Erde kam und Ordnung schaffte“.

Zeichnungen erzählen die Geschichte von Völkern

Jüngere Felszeichnungen aus der frühen Eisenzeit haben weniger mythologischen als einen kämpferischen Charakter: Meist sind Männer abgebildet, die mit Pfeil und Bogen wilde Tiere jagen. Oftmals wurden sie über die älteren Zeichnungen geritzt, als ob sie diese zerstören wollten. Als zwischen dem sechsten und zwölften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die ersten Turkstaaten gegründet wurden, verbreiteten sich mit dem Islam auch die ersten Schriftsysteme. In den nächsten beiden Jahrhunderten ergänzten frühe Künstler die Sonnenköpfe und veränderten die Bedeutung der früheren Zeichnungen. Das einmalige Bild eines Elefanten zeugt vom breiten kulturellen Austausch über die Seidenstraße. In den folgenden Jahrhunderten wurde wenig hinzugefügt – der Einfall der Mongolen und die anschließenden Kriege verhinderten künstlerische Betätigung weitgehend. Im 17. Jahrhundert ritzten buddhistische Gläubige Gebete in die Steine; alte Gottesbilder wurden erneuert.

Umso „kreativer“ sind die Besucher des 20. und 21. Jahrhunderts, die ihre Namen für die Nachwelt hinterlassen wollen und mit diesem Vandalismus die jahrtausendealten Kunstwerke verschandeln. Mit der offiziellen Eröffnung des kleinen Museums in der Nähe der Fundstätten Anfang August 2010 wird hoffentlich das Bewusstsein gestärkt, mit welchem Respekt Besucher dem kulturellen Erbe begegnen sollten. Im Museum befinden sich eine Übersichtskarte mit eingezeichneten Marschrouten, Nachbildungen der bedeutendsten Petroglyphen, die offizielle Urkunde von der UNESCO sowie ein kurzer Überblick über die Geschichte der Zeichnungen und des geschützten Gebiets, das 3.800 Hektar mit etwa 5.000 Felszeichnungen umfasst. Die Ausgrabungen sind noch längst nicht abgeschlossen – Archäologen werden weiter forschen und die Zeugnisse der Siedlungs- und Kulturgeschichte Kasachstans, die teils metertief unter dem Steppensand vergrabener Legenden vergangener Epochen für die Gegenwart und Zukunft entdecken. Sie zu erhalten und zu schützen bleibt die Aufgabe von uns allen.

Von Julia Burkhart

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