Ohne die schrägen Vögel und bösen Kerle würden wir redlichen Normalbürger uns weniger gut verstehen. So scheint es. Wenn ich die letzten Gespräche mit anderen Menschen Revue passieren lasse, in denen wir uns wirklich richtig gut verstanden haben, dann ging es meist um andere Menschen, wie böse oder seltsam sie seien, was sie uns Arges zumuten und dass wir uns doch zumindest sehr wundern und freuen, dass wir nicht so sind. Wer lästert nicht gern?
Ein Klassiker: über die Identifizierung eines gemeinsamen Feindbildes schließt sich ruckzuck eine Freundschaft, auch wenn man sonst nichts Gemeinsames hat. Wahrscheinlich finden die Soziologen und Psychologen diesen Fakt nicht erwähnenswert, weil sowieso normal und natürlich. Es sollte mal eine Langzeitstudie erstellt werden, was in und mit Ehen passiert, in denen das gemeinsame Lästern verboten wird. Man darf sich gegen nichts und niemanden verschwören, da bleibt zu vermuten, dass sich jeglicher Unmut gegeneinander richtet. Au weia!
Ich fürchte eine ausgesprochen hohe Mordrate. Ich muss zugeben, auch ich würde schon eine Menge Leichen im Keller haben, wenn ich mir nicht regelmäßig das Maul zerrisse. Aktuell: mein Vermieter. Ich war schon wieder kurz vorm Platzen bzw. davor, ihm hinterrücks… oder den Hals umzu… da stellte sich mir ein Ventil in den Weg: meine Nachbarin. Wir kannten uns bislang nur vom schüchternen Zunicken über die Straße hinweg. Wir haben uns schon vielfach gegenseitig beäugt und gemustert: Freund oder Feind? Nähern oder meiden? Verlässlich, wenn Hilfe erforderlich? Oder mindestens zum Blumengießen im Urlaub geeignet? Ruft Polizei, falls Party zu laut?
Die ersten Eindrücke waren positiv, so schien es, doch das eigentliche Herantasten in Gesprächsform fehlte noch. Ich als die Neue in dieser Straße fühlte mich in der Pflicht, mich etwas zu outen. Mir ist klar, dass mein Vermieter und die Wohnsituation im Loft mit Sicherheit auf mindestens großes Wundern bei meinen Nachbarn stoßen muss, drum ging ich in die Offensive. Was auf Kosten meines Vermieters ging, da ich mich deutlich von ihm zu distanzieren versuchte. Dass ich nicht zu ihm gehöre, sondern nur seine Mieterin bin; dass ich anders als er, also eigentlich ganz normal, bin; dass ich hier nicht hause, sondern gepflegt wohne und arbeite. Dass ich unter ihm leide und er ein seltsamer Vogel sei.
Was ihr das Ventil bot, loszuwerden, was sie schon lange Zeit beschäftigte. Und schon hatten wir eine gemeinsame Basis der Annäherung, es ging lustig zu, wir konnten nicht schnell genug unsere Anekdoten über ihn loswerden, ein Wort ergab das andere, weil mein kurioser Vermieter stundenlangen Gesprächsstoff bietet. Wenn meine Nachbarin nicht hätte ihren Sohn vom Kindergarten abholen müssen, stünden wir jetzt immer noch auf der Straße und würden uns gemeinsam wundern. Sie sagte sogar „Schade, leider muss ich meinen Sohn abholen,“ – was sie sonst mit großer Freude tut.
Es schien ihr also so richtig Spaß gemacht zu haben, sich bis ins Detail über meinen Vermieter auszulassen. Und mir erst! Daran zeigte sich, wie schwer es ist, kuriose Eindrücke mit sich selbst auszuwerten und auszufechten und diese ins Weltbild einzupassen. Geht bei meinem Vermieter nicht. Er sprengt alle meine Schubladen und Vorstellungen. Immer wieder versuche ich festzustellen, was ich mit ihm anfangen soll: Ist er böse oder nur verwirrt? Ist er ein Alien oder ein Autist? Dahinter stecken natürlich die existenziellen Fragen: Kann ich mich auf ihn verlassen oder muss ich mich vor ihm schützen? Ist er verrückt oder kann ich meinem eigenen Verstand nicht mehr trauen? Darf ich ihm böse sein oder bin ich intolerant?
Gott sei Dank, wenn man dann jemanden findet, der einen wieder einnordet: Man ist normal, gut, nett und hat sie noch alle beieinander. Das lässt man sich dann gern stundenlang bestätigen. Wir haben uns jetzt auf einen Kaffee verabredet, und dann geht es dem Vermieter richtig an den Kragen.
Julia Siebert
05/03/10