Ein Gespräch mit Hélène Guillerm über das Wanderreiten in Kirgisistan

Kirgisistan und Pferde, das ist kaum voneinander zu trennen. Die Pferde- und Reitkultur hat in diesem Land, wie in vielen anderen Ländern Zentralasiens auch, eine besonders lange Tradition. Bereits vor mehr als 5.000 Jahren, so schätzt man, wurden in diesem Teil der Welt Pferde domestiziert. Kein Wunder, dass der Reittourismus in Kirgisistan in den letzten Jahren immer mehr zugenommen hat, insbesondere für Mehrtages- und Langstreckenritte.

Eine echte Expertin, was das Wanderreiten in Kirgisistan angeht, ist Hélène Guillerm. Die gebürtige Französin lebt bereits seit über zwanzig Jahren in Nord Kirgisistan. Dort arbeitet sie im Sommer als Guide für Wanderritte. Vor allem ist sie aber Anlaufpunkt für viele reitbegeisterte Tourist:innen, vor allem aus Europa und Amerika, die das Wanderreiten lernen wollen. Jahr für Jahr kommen Menschen zu ihr, um sich auf autonome Langstreckenritte in der kirgisischen Wildnis vorzubereiten.

Wo die Arbeit niemals schläft

Wenn Hélène spricht, ist es schier unmöglich, nichts Neues und Interessantes zu erfahren. Die Jahrzehnte an Erfahrungen und Geschichten scheinen nur so aus ihr heraus zu sprudeln, wenn man ihr die richtigen Fragen stellt. Sie lacht, während sie ihren Lederhut zurechtrückt, und erzählt von ihrem Alltag, den sie mit ihrem Hund, den fünf Katzen und über einem Dutzend Pferde verbringt.

Hélène ist ein absolutes Allround-Talent und das nicht nur, weil sie es sein kann, sondern weil sie es sein muss. Damit es ihren Tieren gut geht, ist sie alles zugleich: Logistikerin, Fahrerin, Tierärztin und Hufschmied. Mit all den Tieren, die sie allein versorgt, hat sie einen undenkbar anstrengenden Alltag und den sieht man ihr manchmal an, wenn sich neben all der Fröhlichkeit auch die Müdigkeit in ihre Augen schleicht. Die körperliche Arbeit hinterlässt Spuren.

Auf ihrem Hof gibt es nie nichts zu tun, selbst nachts gibt es keine Ruhe. Vor kurzem, bei einem starken Hagelsturm beispielsweise hat sich vor Schreck ein Hengst des Nachbarn losgerissen. Kurz darauf rannte er durch den Zaun, der Hélènes Pferde umgibt, und gesellte sich zu ihren Stuten. Für Hélène bedeutete das eine weitere Nachtschicht, um den Hengst einzufangen und die Zäune zu reparieren, bis am Morgen des folgenden Tags die Arbeit mit dem Füttern wieder von Neuem beginnt.

Der Umgang auf Augenhöhe

Natürlich gibt es im ganzen Land zahlreiche kirgisische Familien, die Pferde vermieten, verkaufen oder Wanderritte anbieten. Warum aber so viele Menschen für ihr prepping, also die Vorbereitungen für Touren, ausgerechnet zu Hélène kommen, hat mehrere Gründe. Einerseits ist es die Sprache, denn Hélène spricht sowohl Französisch und Englisch als auch Russisch fließend. Andererseits sind es wohl ihr Erfahrungsschatz und ihre Mentalität, die Hélène einzigartig machen.

Die kirgisische Kultur ist eng mit dem Pferd verknüpft. Die Realität hinter diesem Satz, der so romantisch klingen könnte, ist jedoch: Das Pferd ist ein Nutztier für Transport, Milch und Fleisch. 98 Prozent der Pferde, die in Kirgisistan auf dem Basar gehandelt werden, seien für den Schlachter bestimmt, erzählt Helene. Außerdem seien Pferde nicht selten Statussymbole:

Je mehr Pferde, desto reicher die Familie.

Das handhabt Hélène anders. Pferde, die bei ihr sind, bleiben auch bei ihr. Stolz erzählt sie beispielsweise, dass ihre Stute mit inzwischen über zwanzig Jahren eine der ältesten im Dorf sei. Das Pferd ist kein Geldwert, keine Ware, sondern ein Lebewesen mit Mitspracherecht. Auf die Frage, welches Prinzip für sie bei der Arbeit mit Pferden im Vordergrund steht, antwortet Hélène:

„Ich für dich – du für mich. Ich versuche eine Balance zu halten, bei der ich etwas von dem Pferd fordere und dann etwas zurückgebe. Ich versuche, mit ihnen zu kooperieren. Es gibt keinen Grund, sie wie Sklaven zu behandeln. Sie sind Kollegen.“

Mit ihrer Arbeit versucht Hélène, das Leben der Pferde in Kirgisistan ein bisschen besser zu machen. Nicht selten übernimmt sie deshalb auch Pferde in ihre Herde, welche die Reisenden nach ihren wochen- oder monatelangen Wanderritten zurücklassen mussten, sie aber nicht in die Hände des Basars und damit des Schlachters geben wollten.

Gleichzeitig versucht sie, Menschen das nötige Wissen zum Wanderreiten zu vermitteln, denn da gehört einiges dazu. Welches Equipment nutzt man? Wie erkennt man Krankheiten beim Pferd? Welche Pflanzen sind giftig? Wie verhindert man Verletzungen? Wie behandelt man eine Kolik? Wo setzt man eine Spritze? Oder wie durchquert man einen Fluss? Dabei legt Hélène besonderen Wert auf einen pferdezentrierten Ansatz.

„Es ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden, dass Menschen nach Kirgisistan kommen und Pferde leihen oder kaufen. Mit denen gehen sie dann zwei oder drei Wochen reiten, um sie danach auf dem Basar wieder zu verkaufen. Die meisten Menschen, die das machen, haben keine oder nur wenig Erfahrung mit Pferden. Die Tiere zahlen dann den Preis für diese Ignoranz.“

Das Land der Pferde

Ihre Sommer verbringt Hélène über Monate hinweg in den Bergen. Als Guide für Wanderritte ist sie dann mit verschiedenen Gruppen jeweils über Tage oder sogar Wochen unterwegs. Dabei reitet man jeden Tag zu einem neuen Ort und übernachtet unterwegs im Zelt oder in Jurten. Zelten könne man in Kirgisistan eigentlich überall, sagt sie. Die Pferde ernähren sich unterwegs vom Gras auf den Wiesen und sie trinken aus Flüssen oder Bächen. Man selbst wäscht sich darin und hat an Kleidung sowie Nahrung nur das Nötigste dabei. Das Leben auf Wanderritten ist einfach, fast nomadisch, und zugleich wohl eine der größten Umstellungen, die man von einem regulären, sesshaften Leben haben kann.

Es gibt natürlich vieles, was Hélène an Kirgisistan gefällt. Einmal sei sie mit einer Gruppe von Reiter:innen gegen Abend bei dem Waggon eines Hirten angekommen und, weil ihr Versorgungsauto liegengeblieben war, baten sie ihn um Hilfe. Der Hirte ließ sie bei sich in dem engen Waggon übernachten, gab ihnen Decken und legte alle paar Stunden das Feuer nach, auch nachts. Dies sei keine Seltenheit, erzählt sie, denn Gastfreundschaft werde in Kirgisistan sehr großgeschrieben.

Außerdem gefällt Hélène in Kirgisistan die traditionell enge Verknüpfung von dem Leben der Menschen mit dem Leben der Tiere. So kann sie in Kirgisistan – einfach so – zwanzig Pferde mitten im Dorf halten, ohne dass sich jemand daran stört, weil es einfach dazugehört. Eine Tierärztin sagte ihr einmal: „Man kann nie zu viele Pferde haben!“

Mehr Informationen zu Hélènes Arbeit gibt es außerdem auf ihrer Website unter formationvoyageacheval.wordpress.com und bei Instagram unter @guillerm.helene.

MG/DAZ

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