In Ihrem Roman „Sibir“ behandelt Sabrina Janesch ein bislang wenig beachtetes Kapitel der deutsch-sowjetischen Geschichte: die Verschleppung deutscher Zivilgefangener während des Zweiten Weltkrieges nach Kasachstan. Der Roman basiert auf der eigenen Familiengeschichte der Autorin – der Deportation ihres Vaters und seiner Familie während des Krieges nach Kasachstan und ihre Rückkehr nach Deutschland zehn Jahre später.

Der Roman „Sibir“ ist am 31. Januar 2023 im Rowohlt Berlin Verlag erschienen. Janesch verbindet darin persönliche Erfahrungen mit historischer Recherche und schafft so ein eindringliches, literarisches Zeugnis. In unserem Gespräch erzählt Sabrina Janesch von der Entstehung ihres Romans, dem Rechercheprozess und ihrem familiären Erbe.

Sibir: Zwischen Kindheit in Kasachstan und Deutschland

© Rowohlt Berlin

Janesch’s Roman „Sibir“ wechselt zwischen zwei, fest ineinander verwobenen Erzählebenen. So beleuchtet Sibir einerseits die Kindheit von Leila im fiktiven Mühlheide in Deutschland in den 1990er Jahren. Parallel dazu schildert der Roman die Kindheit von Leilas Vater, Josef Ambacher, die durch die Deportation seiner Familie in die kasachische Steppe geprägt ist. Josef Ambachers Familie stammt ursprünglich aus dem Egerland, übersiedelte vor dem Zweiten Weltkrieg nach Galizien und baute sich dort eine neue Existenz auf. Mit der sowjetischen Besetzung Galiziens im September 1939 mussten die Ambachers ihre neue Heimat verlassen und zogen ins polnische Wartheland. 1945 wurden sie von der Roten Armee aus dem Wartheland nach Kasachstan deportiert. Erst ein Jahrzehnt später kehrte die Familie Ambacher nach Deutschland zurück.

Schreiben gegen das Vergessen

Sabrina Janesch, selbst 1985 in Deutschland geboren, schätzte schon früh die prägenden und eindrucksvollen Erzählungen ihres Vaters und zeichnete diese auf – schon Jahre bevor sie mit der Arbeit an ihrem Roman „Sibir“ begann. Doch erst mit der einsetzenden Demenz ihres Vaters kommt für Janesch schließlich der entscheidende Impuls, diese persönliche, emotionale und auch traumatische Familienbiografie literarisch aufzuarbeiten.

Janesch beabsichtigt, nicht nur das Schicksal der 1945 verschleppten deutschen Zivilisten zu thematisieren, „sondern eben auch die sehr vielfältigen Schicksale der Verschleppten nachzuzeichnen“. Um die Erfahrungen ihres Vaters abzugleichen, sprach die Autorin deshalb während eines Jahres mit weiteren Mitgliedern der russlanddeutschen Gemeinschaft in Deutschland. Durch diese Gespräche und das Lesen von Memoiren und Tagebüchern gewann die Autorin tiefe und persönliche Einblicke in die verschiedenen Lebensgeschichten. Sie stellt heute dazu fest: „Es waren immer ähnliche Geschichten, die erzählt wurden, und mit ähnlichen Worten“.

Fiktive Elemente: Lücken schliessen und Geschichten vervollständigen

Auf dem Titelbild von Sibir befindet sich die Genrebezeichnung Roman – eine Wahl, die Sabrina Janesch bewusst getroffen hat. Die Autorin betont, dass Sibir zwar diverse fiktive Elemente enthält, die es von einem rein autobiografischen Werk unterscheiden, allerdings „wäre ich nie oder schwer auf dieses Thema gekommen, hätte mich die eigene Familienbiografie nicht (…) dorthin geführt“.

Wie die Autorin aufzeigt, dienen die fiktionalen Anteile vor allem dazu, Lücken in den Erzählungen ihres Vaters und der russlanddeutschen Gemeinschaft zu schliessen. Jene persönlichen Erzählungen seien oft durch einen „anekdotischen Charakter“ gekennzeichnet und nur selten in einen grösseren historischen Kontext eingebettet. Während Janesch die historischen Lücken durch gründliche Recherchearbeit zu füllen versucht, greift sie auf fiktive Elemente zurück, um die Lücken der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Familie oder in der Gemeinschaft zu vervollständigen. Darüber hinaus verweist Janesch auf die Notwendigkeit, die umfassenden Erlebnisse ihres Vaters während seines zehnjährigen Aufenthaltes in Kasachstan zu verdichten, denn es sei nötig „auszuwählen, einige Phänomene zu isolieren, [und] auf den Punkt zu bringen“.

Kasachstan: Ein Ort der Mythen und Legenden

Kasachstan ist für Sabrina Janesch schon seit ihrer Kindheit ein prägender Begriff. Ihr Vater erzählte ihr bereits früh Geschichten aus der Steppe. Dabei schilderte er vor allem die extremen Temperatur- und Wetterbedingungen sowie Begegnungen mit wilden Tieren, erinnert sich Janesch. Durch die Erzählungen ihres Vaters wurde Kasachstan für die junge Janesch zu einem „Ort der Mythen und der Legenden“, wie sie selbst sagt.

Als krönender Abschluss ihrer Buchrecherche reist Janesch 2018 schließlich selbst nach Kasachstan und macht sich, 200 bis 250 Kilometer nordwestlich von Astana „in einer sehr kargen Steppenlandschaft“, auf die Suche nach dem Haus ihrer Vorfahren. Sie wird dank der Hilfe ihres kasachischen Guides tatsächlich fündig. Beeindruckt von der Gastfreundschaft und Freundlichkeit, will Janesch der kasachischen Kultur gar „ein kleines Denkmal mit diesem Roman setzen“. Denn für Janesch ist durch diese Reise und die dadurch geknüpften Freundschaften „etwas Bleibendes“ entstanden.

Ankommen in Deutschland

Sibir thematisiert aber nicht nur die Rückkehr und das Ankommen in Deutschland, sondern auch die damit verbundenen emotionalen Herausforderungen. So beleuchtet der Roman auch die Beziehung zwischen den 1955 nach Deutschland zurückgekehrten Zivilgefangenen, wie der Familie Ambacher, und den erst um die 1990er Jahre nach Deutschland zurückgekehrten Aussiedlern. Sibir zeichnet dabei eine ambivalente Dynamik zwischen Nähe und Vertrautheit einerseits, und Schuldgefühle und Unbehagen andererseits. Wenn Janesch heute auf dieses Aufeinandertreffen zurückblickt, erinnert sie sich besonders an die „Erleichterung, endlich ein Gegenüber zu haben, dem man (…) mit nur ganz wenig wohlgesetzten Worten oder Geschichten zu erkennen geben konnte, ich weiss genau, woher du kommst, was du erlebt hast und was du damit meinst“.

Umgang mit dem familiären Erbe

Ähnlich wie Leila empfand auch Sabrina Janesch als Kind ihre Familiengeschichte oft als „Makel“. Sie beschreibt, wie in der russlanddeutschen Gemeinschaft ein starker Impuls vorherrschte, die traumatischen Erfahrungen und schmerzhaften Erinnerungen lieber zu verschweigen. Heute jedoch beobachtet Janesch einen spürbaren Wandel in ihrer Generation, da diese „das Ganze eher als Schatz begreift, und auch als Schlüssel. Dass man diese Geschichten von Migration, von Anderssein (…) tatsächlich teilen kann, dass sie rezipiert werden, und dass sie auch journalistisch etwas Wertvolles bedeuten“. Die Autorin ist überzeugt, dass die Fähigkeit, Brücken zwischen Kulturen zu schlagen, zukünftig immer mehr an Bedeutung gewinnen wird.

Sabrina Janesch schildert, dass für sie bis heute eine „kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema Heimat und wo man sich verwurzelt fühlt, wo man sich wirklich zuhause fühlt“, geblieben ist. Ihr Ziel ist es, die intergenerationellen Traumata ihrer Familie nicht an ihre eigenen Kinder weiterzugeben und stattdessen die positiven Aspekte ihrer Familiengeschichte in den Fokus zu rücken. Gleichzeitig betont Janesch die Wichtigkeit, „den Respekt auch vor dem Leid der vorangegangenen Generation, und auch vor der Stärke und der Härte“ zu bewahren und an zukünftige Generationen weiterzugeben.

Das Erbe ihrer Familienbiografie ist vielschichtig. Während Janesch wenig materielle Dinge geblieben sind, ist das immaterielle Erbe ihrer Familie um so reicher. Es umfasst das Erzählen von Geschichten, den Bezug zur Sprache und eine zentrale Überzeugung: jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft zu Wort kommen zu lassen und ihm zuzuhören. So wünscht sich Sabrina Janesch, dass ihr Roman „Sibir“ die Leser:innen dazu inspiriert, „einen ganz, ganz offenen Geist und ein liebevolles und vorurteilsfreies Auftreten gegenüber anderen Kulturen, Nationalitäten und Religionen“ zu kultivieren.

Alina Knobel

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