In der amerikanischen Provinz gibt sich Kolumnistin Julia Siebert ihren Hirngespinsten hin: wie ließe es sich hier leben? Die überraschende Antwort: mit dem Verkauf von Pferdebürsten.

Zuletzt in einem Vorstadtkaff in Amerika, irgendwo zwischen Washington und den Appalachen. Ich saß in einem Café, ließ die Seele und Beine baumeln, schlürfte an meinem übersüßten Mokka, blinzelte in die Sonne, starrte auf die kleinen Ladenlokale auf der anderen Straßenseite und hing der Frage nach, ob ich hier leben könnte und wollte.

Ja, vielleicht schon, immerhin gute Restaurants gab es hier, in denen ich einen Teil meiner Lebenszeit verbringen könnte. Aber wie würde ich das finanzieren? Ich fantasierte mich in eines der Ladenlokale hinein. Da stand ich nun hinter meiner Theke, aber was böte ich diesem Städtchen mit Westernflair an? Pferdebürsten! schoss es mir nach einer kurzen Meditationsphase klar und deutlich in den Sinn. Häh, Pferdebürsten?! fragte mein Verstand verdutzt den Teil des Hirns, der sich diese Flause ausgedacht hat, sag mal, spinnst du? Erstens benutze ich selbst keine Bürsten und zweitens nähere ich mich Pferden maximal bis zum Wettschalter beim Pferderennen.

Ja, allerdings, Pferdebürsten, klarer Fall! antwortete der Teil, der sich für die Hirngespinste zuständig fühlt, denk doch mal nach: Du hast ein konkretes Produkt, das nicht vollkommen weltfremd ist aber doch speziell genug, um sich eine Marktnische zu erschließen. Das ist übersichtlich und greifbar, nicht so wie deine Projektevaluationen. Du musst dich nicht abstrakt mit Fragen der evidenten Messbarkeit rumplagen, sondern kannst deine Pferdebürsten mit dem Zollstock nachmessen. Du kannst dich in deiner kleinen Werkstatt ganz und gar auf die Ausarbeitung der ultimativen Pferdebürste konzentrieren und mit verschiedenen Hölzern, Lacken, Haaren, Leimen herumexperimentieren. Deine Bürsten sind alle handgefertigt, individuell und exklusiv. Sie sind für die Ewigkeit gemacht und tragen deine Handschrift. Sie sind richtig teuer und werden weltweit gehandelt, später sogar mal auf Auktionen versteigert. So wie die Stradivaris.

Oh ja! das leuchtete mir ein. Ein richtig gutes Produkt, womit ich auch etwas den kurzlebigen Konsumgütern der Wegwerfgesellschaft entgegensetzen könnte. Denn ich ließ mir kürzlich zu meinem Schrecken mitteilen, dass in die Entwicklung von Produkten absichtlich eine kurze Haltbarkeitsdauer eingearbeitet würde, um den Konsum in Gang zu halten. Macht unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten Sinn, aber oh Nein, oh Schreck, gibt es denn dann keine Qualitätswaren mehr? Welch Schande für die Ingenieurskunst! Und wenn schon nicht mehr die Ingenieure für eine hohe Produktqualität tüfteln, dann doch hoffentlich noch die Handwerker! Ich kann mir einen Haushalt ohne Dinge, die mir aus vorherigen Generationen vererbt wurden und immer noch reibungslos funktionieren wie am Schnürchen, einfach nicht vorstellen.

Und ich? Was habe ich meiner Nachwelt jetzt anzubieten? Evaluationsberichte, na toll! Selbst wenn ich die Berichte für meine Nachwelt in PDF speichere und laminieren ließe, wäre dennoch schwer vorstellbar, dass meine Nachwelt sagt: Oho, sieh mal hier, eine ganz schlaue Handlungsempfehlung, die ist nicht nur nützlich, sondern auch gut ausgearbeitet. Und Gutachter würden prüfen, ob es sich um eine echte Siebert handelt oder um eine Fälschung. Sie sehen: Ich komme an den Pferdebürsten nicht vorbei. Bis ich weiß, wie man so ein Ding herstellt, feile ich schon mal an meinen Initialen, denn neben dem Spitzen-1A-Produkt sind die Initialen das A und O.

Julia Siebert

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