Ich arbeite und plädiere seit Jahren für mehr Toleranz gegenüber Einwanderern. Und dann so was! Neulich hörte ich im Radio, dass die jungen Menschen von heute und darunter insbesondere diejenigen mit Migrationshintergrund und darunter insbesondere diejenigen aus Osteuropa keine Toleranz gegenüber Homosexuellen hätten. Das kann ich unmöglich tolerieren. Schon stehe ich mit mindestens einem Fuß selbst drin in der Intoleranz.
Und das kommt nicht von ungefähr. Ich sei nicht tolerant, hat mir mein Freund Dima mal gesagt. Das war, als ich sagte, dass meine Nichte Türken und Polen nicht leiden könne. Wie ich damit bitteschön klarkommen solle, habe ich Dima gefragt, eine so intolerante Nichte zu haben?! Ich solle meiner Nichte, also ihrer Intoleranz gegenüber toleranter sein, hatte Dima gesagt. Und überhaupt, sei ich sowieso nicht besonders tolerant. Ich war natürlich sofort empört. Dima fand trotz meiner Empörung, dass er Recht habe. Ich sei gegenüber Migranten und Benachteiligten sehr tolerant, aber damit höre es im Prinzip schon auf. Insbesondere, wenn andere Leute nicht so arbeiten, wie ich das erwarte, fehle es an Toleranz. Später, als sich meine Empörung gelegt hatte, musste ich zugeben, dass Dima Recht hat. Ich kann es nämlich gar nicht leiden, wenn jemand schusselig arbeitet, wenn Leute nur an ihrem Bier nippen, anstatt einen ordentlichen Schluck zu nehmen; wenn jemand Käffchen sagt statt Kaffee und Latte Macchiato bestellt statt einen ordentlichen Kaffee. Auch so gar nicht tolerabel ist, wenn jemand viel zu langsam in die Straßenbahn einsteigt und die dahinter folgenden Menschen ausbremst. Aber sonst bin ich eigentlich ganz tolerant. Abgesehen von weiteren 555 Eigenschaften und Verhaltensweisen, für die ich so gar kein Verständnis aufbringe. Den absoluten Spitzenplatz unter den Dingen, die ich nicht akzeptiere, nimmt jedoch seit jeher die Intoleranz gegenüber Benachteiligten ein. Ja, und jetzt weiß ich nicht, in welche Schublade ich die Benachteiligten stecken soll, die sich gegenüber Benachteiligten doof verhalten. Aber wenn ich jetzt recht überlege, ist es natürlich absurd zu meinen, dass Randgruppen gegenüber Randgruppen sehr tolerant sein müssten. Natürlich haben sie ein Recht darauf, andere doof zu finden, Randgruppe hin oder her.
Ich habe mal einen Arbeitskreis für selbstständige Migranten ins Leben gerufen, auf dass alle, die ja in der selben Lage wären, miteinander Lösungen erarbeiten. Wie schön, dachte ich, elf unterschiedliche Nationalitäten um den Runden Tisch versammelt. Aber so schön fanden das die Migranten selbst gar nicht. Der Kroate schaute den Serben finster an, der Norditaliener wollte mit dem Süditaliener nichts zu tun haben. Der kirgisische Aussiedler wich dem jüdischen Ukrainer aus. Und ein Teil der Anwesenden fand den Afrikaner suspekt, um nur einige der Befindlichkeiten zu benennen. In so einer Situation kann man sich schon mal verheddern.
Und im Zweifelsfall kann man sich auch in den Wahnsinn oder Tod tolerieren. Dann würde die Diagnose in der Psychiatrie lauten: „Sie hat die Toleranzen.“ Oder der Text auf meinem Grabstein verhieße: „Sie starb an der Toleranz“. Spätere Völker, die das Wort dann nicht mehr kennen, denken, das wäre so etwas wie die Cholera.
Also, da bleibe ich doch lieber intolerant, zeige aber aufrichtiges Bemühen um ein klein wenig mehr Toleranz hier und da. Ich fange mal mit den Käffchensagern an, das ist eine angemessene Herausforderung.
Ich hoffe, auf meinem langen, beschwerlichen, steinigen Weg zur Nachsicht gegenüber Intoleranten begegnet man mir mit reichlich Nachsicht.
Julia Siebert
12/09/08