Reformen Glasnost und Perestroika haben viel ausgelöst und verbesserten das Selbstverständnis der Sowjetdeutschen. Damals wurde der sowjetische Unionsverband „Wiedergeburt“ gegründet. In Kasachstan existiert er bis heute und vereint alle regionalen deutschen Gesellschaften der Republik.

„Weder in der Literatur noch in der Geschichte darf es vergessene Namen und weiße Flecken geben“. Diesen Satz richtete Michail Gorbatschow 1985 in seiner Funktion als Generalsekretär der KPdSU an die Chefredakteure der sowjetischen Medien und leitete damit den Beginn der Ära Glasnost und Perestroika ein. Die Folgen dieser Losung machten sich in der gesamten Sowjetunion bemerkbar. So auch in der Redaktion der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, damals noch „Freundschaft“ genannt. Die Rubrik „Erinnerung“ klärte über das Schicksal der Sowjetdeutschen auf.

In der Gesellschaft der Sowjetunion herrschte eine geschlossene Stimmung. Daran kann sich auch der Vorsitzende der Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Deutschen Kasachstans erinnern. Er erinnert sich, wie er zum Beispiel mit seiner Mutter Bus gefahren war, die zu ihm etwas auf Deutsch gesagt hatte, was zu heftigen Reaktionen der übrigen Fahrgäste geführt hatte: „Wir haben sehr lange in einer Atmosphäre totaler Verachtung und Aberkennung alles Deutschen gelebt. Wir waren wie Aussätzige, von denen alle zurückwichen, wenn sie erfuhren, dass wir Deutsche waren“. Deutsch sprechen war Tabu.

Deutsch sprechen war tabu

Mit diesen Erfahrungen und Erlebnissen war Alexander Dederer nicht allein, denn in der Gesellschaft der Sowjetunion rief allein das Wort „Deutsch“ eine negative Assoziation hervor. Dieser negative Bezug zum Deutschen im sowjetischen kollektiven Gedächtnis beruhte auf die Ereignisse des zweiten Weltkrieges. Die Wehrmacht hatte im Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen. Daraufhin ließ Stalin in den Jahren 1941 bis 1943 Millionen Sowjetdeutsche nach Sibirien, Krigisistan, Tadschikistan und Kasachstan verschleppen. Dabei sind viele Menschen ums Leben gekommen. Sowjetdeutsche erfuhren alltägliche Diskriminierung, aufgrund ihrer ethnischen Herkunft. Viele von ihnen versteckten sich, passten sich an, schämten sich gar und sprachen nur noch Russisch. Das führte zu einer starken kulturellen Erosion.

Dementsprechend hatte die 1985 von Gorbatschow neuverordnete politische Transparenz eine fundamentale Bedeutung für die Sowjetdeutschen. Plötzlich konnten Opfer der stalinistischen Deportationen öffentlich über ihre Erfahrungen und Erinnerungen sprechen. So erfuhren auch die Leser der deutschen Zeitung in Kasachstan „Freundschaft“, dass das Schicksal vieler Russlanddeutschen durch die Verordnung des Obersten Rates der Sowjetunion vom 28. August 1941 maßgeblich beeinflusst wurde.

„Erinnerungen“ in der „Freundschaft“

In der Perestroika-und Glasnost-Zeit kamen immer mehr Geschichten über die „Trudarmee“und die Diskriminierungen der Sowjetdeutschen ans Licht. In der Zeitung „Freundschaft“ gab es dafür extra die Rubrik „Erinnerungen“. Damals war die Zeitung das größte deutsche Presseorgan in der Sowjetrepublik Kasachstan, welches die Interessen der ethnischen Deutschen vertrat und regelmäßig über die neusten Entwicklungen berichtete und das Erlebte der Deportierten dokumentierte.

Gründung der „Wiedergeburt“

Heute: Nach wie vor ist Alexander Dederer Vorsitzender im Deutschen Haus – hier zusammen mit Heinrich Groth.

Das neue Wissen stärkte das Selbstbewusstsein der Sowjetdeutschen. Einige von ihnen schlossen sich zusammen und begannen sich zu organisieren. Der Unionsverband „Wiedergeburt“ wurde gegründet. Ihr damaliger Vorsitzender Heinrich Groth, der mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland lebt, kämpfte im Namen des neugegründeten Unionsverbandes um die Rehabilitierung der Sowjetdeutschen. Dabei ging es ihm unter anderem darum, die 1941 verlorene Republik zurückzubekommen. Über dieses Ereignis berichtete damals die Zeitung „Freundschaft“. Während der dreitägigen Gründungsversammlung im April 1989 gab es lebhafte Diskussionen um die Perspektiven und die Agenda der „Wiedergeburt“.

Auf der einen Seite war die Erhaltung der Sprache, Kultur und Traditionen ein erklärtes Ziel, auf der anderen Seite forderten einige Gründungsmitglieder die Wiederherstellung der Autonomie der Sowjetdeutschen. Dies war verbunden mit handfesten Erwartungen: Die Rückkehr der Russlanddeutschen in ihre eigene Republik war für einige der Mitbegründer der „Wiedergeburt“ damals ein zu erwartendes Ziel. Diesen Eindruck vermittelte ein Bericht vom April 1989 aus der „Freundschaft“: „Wir bekommen zahlreiche Briefe von unseren Landsleuten, welche schreiben, dass sie im Falle der Wiederherstellung der Autonomie der Sowjetdeutschen mit Freude in die Sowjetunion zurückkehren würden, wenn die Autonomie der Sowjetdeutschen wiederhergestellt wird. Dies ist auch verständlich, wenn man bedenkt, dass Deutsche schon mehr als zwei Jahrhunderte lang in Russland leben. Das ist unsere Heimat, das ist das Land, in dem unsere Vorfahren gelebt und unsere Kinder leben“, verkündete der damalige zweite Vorsitzende der „Wiedergeburt“ Juri Haar während der Gründungskonferenz, die vom 28. bis 31. März 1989 in Moskau tagte. Dieser Bericht zeigt deutlich, dass schon die Gründung der „Wiedergeburt“ Fragen aufwarf, die sich später zu handfesten Konflikten entwickelten.

Mauerfall und Auswanderungswellen

Rund drei Monate nach der Gründung der „Wiedergeburt“ berichten die Zeitungen von Unruhen und Übergriffen gegen ethnische Minderheiten in Nowy Usen, einer Arbeiterstadt in Westkasachstan. Am 22. Juni 1989 wurde Nursultan Nasarbajew zum ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ernannt. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Seitdem ist die Anzahl derjenigen Russlanddeutschen, die aus der Sowjetunion nach Deutschland auswanderten, gestiegen, nämlich bis Mitte der 90er Jahre auf jährlich 12.000 bis 130.000 Menschen.

Diese Auswanderungswelle war nicht ohne Folgen für den noch jungen Verband „Wiedergeburt“. Schon bald war der Optimismus einiger seiner Mitglieder getrübt. Auch die politischen Verhandlungen mit der noch sowjetischen Regierung gingen schleppend voran. Davon zeugt ein Artikel aus der DAZ vom 18.Januar 1990. Darin wurde über die Probleme der Sowjetdeutschen berichtet, und Groth beklagte die mangelhafte Lösung der Rehabilitierung der Sowjetdeutschen: „Die ungelösten Probleme der Sowjetdeutschen sind die Ursachen dafür, dass viele von ihnen die UdSSR verlassen und sich größtenteils in der Bundesrepublik Deutschland ansiedeln. Allein im vergangenen Jahr wurden 95.700 Ausreisegenehmigungen gegeben“. Er war der Meinung, dass die Probleme bei der Wiederherstellung der deutschen Autonomie seine Landsleute zur Ausreise nach Deutschland bewegen würden.

Sicherlich brachte auch einfach nur die Aussicht auf eine Perspektive im Westen auch einige Sowjetdeutsche dazu, aus der untergehenden Sowjetunion auszuwandern. Dies war Groth möglicherweise damals schon bewusst und drohte an, die „Wiedergeburt“ aufzulösen und einen neuen Verein namens „Exodus“ zu gründen.

Selbstverwaltung in Kasachstan

Heute gibt es die „Wiedergeburt“ immer noch in allen postsowjetischen Ländern, so auch in Kasachstan. Dort wurde sie im Sommer 1989 von dem Chefredakteur der deutschen Fernsehsendungen beim „Gosteleradio Kasachstan“, Adam Merz gegründet.

Drei Jahre später wurde unter dem Dach der „Wiedergeburt“ die Selbstverwaltung der Kasachstandeutschen gegründet. Damals berichtete die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ in einem Artikel vom 21. November 1992 (Foto) über die Ernennung ihres Vorsitzenden Alexander Dederer. Zuvor war er Leiter der Gesellschaft der Deutschen in Kostanai.
Ein Jahr später hatte die Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Deutschen Kasachstans mit Unterstützung der Bundesregierung das Deutsche Haus im Viertel „Samal“ erworben. Es ist immer noch die zentrale Verwaltungs– und Verknüpfungsstelle zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Gesellschaften der Kasachstandeutschen, von denen heute 20 über die Republik Kasachstan verteilt sind.

Heute feiert das Deutsche Haus in Almaty sein 20-jähriges Bestehen. Es ist, wie auch alle Vereinshäuser der anderen Gesellschaften der Kasachstandeutschen ein Ort, an dem sie den Austausch mit kasachisch-deutschen Wirtschaftsvertretern pflegen sowie Sozial– und Kulturarbeit leisten, und damit den Vielvölkerstaat Kasachstan bereichern. Außerdem teilen die Leser bis heute ihre Erinnerungen und Erlebnisse mit der DAZ. Das Deutsche Haus besteht weiterhin als identitätsstiftende und kulturelle Brücke zwischen Deutschland und den Kasachstandeutschen.

Von Dominik Vorhölter

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