Auf asphaltlosen Straßen, vorbei an einer überladenen Müllkippe, liegt mitten in der Steppe plötzlich ein See. Das hundert Meter tiefe Reservoir speist sich aus dem Wasser des Tschagan, eines Nebenflusses des Irtysch. Doch natürlich ist an ihm nichts. Der See entstand 1965 als Resultat sowjetischer Atomtests.

Tief im Nordosten Kasachstans liegt das ehemalige Atomwaffentestgelände Semipalatinsk. Hier, knapp 150 km vom heutigen Semej entfernt, wurden von 1949 bis 1989 mehr als 450 Atomtests durchgeführt. Erst 1963 unterzeichnete die Sowjetunion den Vertrag zur Aussetzung oberirdischer Kernwaffenversuche. Bis dahin fielen über 100 Bomben auf das knapp 18.500 km² umfassende Areal. 1991 ließ Nursultan Nasarbajew, Präsident der neuen unabhängigen Republik Kasachstan, das Gelände schließen. Heutzutage ist ein Großteil davon frei zugänglich, die einstige Umzäunung längst dem Rost zum Opfer gefallen.

Der Atomsee sollte der Region als Erholungsgebiet und zusätzliche Nahrungsquelle dienen. Allein findet man sich nicht leicht zurecht: das Gelände ist riesig, es gibt kaum Straßen. Auch Schilder sucht man hier vergebens. Wer sich gerne ein eigenes Bild der Situation machen möchte, dem empfiehlt sich professionelle Unterstützung – zum Beispiel von Valentin. Der 33-jährige Ökologe, Fotograf und Radiographie-Spezialist bietet auf seiner Seite geführte Touren über das verlassene Atomwaffentestgebiet oder Polygon, wie es auf Russisch genannt wird, an. „Wenn jemand mit einer Missbildung kam, hieß es sofort Polygon, Polygon. Es entwickelte sich eine regelrechte Phobie gegen Radioaktivität“, erzählt er auf dem rumpligen Weg durch die Steppe. „Den Leuten wurde gesagt: Geht weg! Kommt nicht zurück! Natürlich haben sie nicht darauf gehört, sie sind trotzdem wiedergekommen.“

Die Fische aus dem Atomsee sind essbar

Valentin kommt aus Kurtschatow, einer Kleinstadt am Rande des Polygons. Der nach dem sowjetischen Physiker Igor Kurtschatow benannte Ort trug früher den Codenamen Semipalatinsk-21. Hier befand sich das Verwaltungszentrum des Semipalatinsker Atomwaffentestgebiets. „Seit das Militär aufgehört hat, das Gebiet zu kontrollieren, kommen die Leute zum Klauen“, bemerkt Valentin und tritt gegen ein leeres Kabel auf dem Boden. „Kupfer und andere Edelmetalle. Denen ist es egal, dass es gefährlich ist. Die wollen nur Geld.“ Techniküberreste sind nicht die einzigen Spuren menschlicher Aktivität in der kargen Steppe. Auf dem Testgelände und in dessen unmittelbarer Nähe grasen Kühe und Pferde. Entlang der wenigen sichtbaren Wege liegt Müll, teilweise in Bergen.

Um den See herum ist meterhoch aufgeschüttete Erde. Der Boden, den die Atombombe bei ihrer Explosion in die Luft gewirbelt hat, bildet jetzt Hügel und Klippen. Von ganz oben hat man einen Ausblick über das Wasser und den Fluss. Valentin zeigt auf eine Gruppe Angler, die es sich am Seeufer gemütlich gemacht hat: „Nachdem die Sowjets abgezogen waren, wurde der See in Ruhe gelassen. Die Fischpopulation florierte, es gibt jetzt richtig große Exemplare. Der See an sich ist sicher, man kann schwimmen, auch die Fische sind essbar. Dass die Angler sich so lange hier aufhalten und den radioaktiven Staub einatmen, ist das Problem.“

Dünne Quellenlage

Das Institute for Radiation Security and Ecology (IRSE) unterstützt diese Behauptung. In einer Broschüre von 2018 über den aktuellen Zustand des Semipalatinsker Atomwaffentestgebiets heißt es übersetzt: „Die Untersuchungen haben gezeigt, dass die spezifische Aktivität von 137C (Caesium-137, ein radioaktives Isotop, Anm. d. Red.) im Muskelgewebe der Fische selbst im Krater des ‚Atomsees‘ 61-mal niedriger war als das maximal akzeptierte Niveau.“

Die internationale Quellenlage zu dem Thema ist dünn. Ein Bericht der IAEA aus dem Jahr 1998 erklärte das so genannte Balapan-Testgebiet, auf dem sich der Atomsee befindet, für komplett verseucht. Eine 2011 von russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durchgeführte Studie bestätigte dies – zumindest in Hinblick auf den Boden. Dafür, ob die Sowjets mit ihrem Experiment am Ende Erfolg hatten, scheint sich kaum einer zu interessieren.

Wer Interesse an einer Tour durch das Polygongelände hat, kann sich über Instagram bei Valentin melden: @av.bss.

Alexandra Heidsiek

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