Kasachstan will ein hochentwickeltes Land werden und das möglichst schnell. Das kann man ja verstehen, und es ist auch nichts gegen ehrgeizige Ziele einzuwenden.
Die können durchaus eine stimulierende Wirkung erzielen. Damit jedoch ehrgeizige Ziele diese Stimulierungsfunktion in der Gesellschaft ausüben, müssen sie auch realistisch sein. Zu ehrgeizige und deshalb wenig realistische Ziele können eher das Gegenteil bewirken, also zu einer Demotivierung führen.
Im Moment steht bekanntlich das große Kampfziel im Raum, in absehbarer Zeit in die Schar der 50 leistungsfähigsten Staaten aufzurücken. Dieses Ziel ist zwar noch lange nicht erreicht, und ob es so schnell wie gedacht erreicht werden kann, ist aus meiner Sicht eher fraglich. Dennoch wird aber von ziemlich hoher Stelle schon über das Aufrücken in die Liga der 30 wettbewerbsfähigsten Staaten fabuliert. Ich halte das nicht für gut, das kann eher demotivierend wirken. Man sollte doch erst einmal Erfahrungen mit den Schwierigkeiten des Aufstiegs in die 50er Liga sammeln. Und dieser Aufstieg hat es in sich, er ist nicht so einfach, wie das Besteigen der Schutzmauer in Medeo. In dem kurzen Zeitraum bis 2015, so ist der Zeitrahmen der 50er Strategie, soll das Wunder des schnellen Aufstiegs von im Moment etwa Position 60 vollbracht sein.
Was ist dazu von der Wirtschaft zu leisten? Ich betone „Wirtschaft“, weil als Gradmesser die makroökonomischen Daten gewählt wurden und nicht etwa das Lebensniveau der Bevölkerung! Letzteres wäre zwar ein Ziel, mit dem man vielleicht Teile des Volkes motivieren könnte. Doch hier wäre wohl bis 2015 der Sprung unter die Top 50 mit Sicherheit nicht zu schaffen. So ist die aktuelle Position Kasachstans bei der Lebenserwartung Platz 141 und beim Zustand der Umwelt Platz 70.
Also gut, der Maßstab ist die Wirtschaft in engerem Sinne, also vor allem das Bruttoinlands-produkt (BIP). Nehmen wir mal nicht den letzten oder vorletzten Platz der angestrebten Liga, sondern versuchen wir gleich auf Platz 48 vorzurücken. Dort befindet sich im Moment Polen mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern. Will Kasachstan in schon acht Jahren auf diesem Platz stehen, muss dann das BIP etwa 300 Mrd. US-Dollar erreichen. Im Jahre 2006 betrug es knapp 80 Mrd. US-Dollar. Also ist mehr als eine Verdreifachung notwendig. Theoretisch möglich wäre das, wenn jährlich mindestens 15 Mrd. US-Dollar investiert würden und deren Effekt um eine Handvoll Prozente höher liegen würde als heute üblich. Der jährliche Zuwachs der Wirtschaftsleistung müsste dann 15 Prozent betragen, mindestens. Eigentlich kann man das Zahlenspiel hier abbrechen. Dennoch sollte ein solches superehrgeiziges Ziel kurz aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht kommentiert werden. Ich wähle aber lieber einen Vergleich. Angenommen, sie sind bisher immer brav mit einem alten Volkswagen Golf zur Arbeit gefahren. Plötzlich aber geht unterwegs dieses Auto kaputt, und Sie müssen auf den neuesten Rennwagen der Formel 1 umsteigen, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Kann durchaus sein, sie schaffen es, so schnell diesen Wagen zu beherrschen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber eher gering. So auch bei dem für die 50er Liga notwendigen Wirtschaftswachstum: Wer will das wie umsetzen, und wenn das tatsächlich gelingen sollte, dieses Tempo beherrschen? Eine zentrale Folge wäre eine noch höhere Inflation als heute. Diese macht bereits jetzt aber große Sorgen. Sollte das genannte Programm wirklich ernsthaft angegangen werden, ist das wohl eher eine Garantie für entstehende Disproportionen
(z. B. zwischen Energieversorgung, Industrieproduktion und Umwelt) und für eine schnelle Überhitzung der Wirtschaft und somit die Gefahr eines möglichen Absturzes in eine Rezession oder gar in eine ökonomische Depression. Letztere Möglichkeit sehe ich deshalb, weil in diesen offensichtlich ernsten Gedankenspielen immer nur von der Produktion ausgegangen wird, nicht aber vom Absatz. Einverstanden, die bis 2015 vorgesehene verdoppelte Menge des zu fördernden Erdöls und Erdgases ist bei Bau entsprechender Transportleitungen absetzbar. Wohin aber soll die um das Sechsfache gesteigerte Industrieproduktion verkauft werden? Da müssten noch viele Wunder passieren! Aber, es ist ja niemandem verboten, zu träumen! China jedenfalls versucht im Moment mit großen Anstrengungen, das dortige hohe jährliche Wirtschaftswachstum von etwa 10 Prozent auf die immer noch glänzende Größe von etwa sieben Prozent herunterzuschrauben. Warum? Der Rennwagen ist ganz einfach zu schnell, er ist aber ab einem bestimmten Tempo nicht mehr beherrschbar.
Bodo Lochmann
18/05/07