Schangatas im Süden Kasachstans war einst eine blühende Bergbaustadt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam der Verfall. Sarina Adambussinowa verbrachte für ein Forschungsprojekt einen Monat in der Monostadt und befragte 151 Haushalte zu ihren Erfahrungen und Überlebensstrategien.

Wie war Ihr Eindruck vor Ort?

Schangatas war aufgrund des großen Phosphatvorkommens eine sowjetische Monostadt und ein wichtiges Zentrum wirtschaftlicher Interessen. Der Zerfall der Sowjetunion hatte daher unerwartete Folgen und viele Bewohner berichten, dass es eine schreckliche Zeit gewesen sei. Bis vor fünf Jahren gab es kein Gas, keinen Strom und kein Wasser. 1999 zählte Schangatas 53.000 Einwohner. Heute sind es nur noch 21.000. Abgesehen von ein paar Parkanlagen, gibt es keine kulturellen Einrichtungen oder Freizeitmöglichkeiten. Alte Gemäuer dienen Kindern als Spielplätze.

Die meisten Einwohner sehen die Abfallentsorgung als das größte Problem an. Die Stadtverwaltung sieht sich dafür nicht zuständig, weshalb es für die Menschen normal ist, ihren Müll auf offener Straße zu verbrennen. Weitere Probleme sind die hohe Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Die Bewohner sprechen jedoch kaum darüber, weil sie Angst haben. Das Zentrum ist zu einer Art Brennpunkt geworden. Mir wurde geraten, ab 22.00 Uhr nicht mehr das Haus zu verlassen.

Sie haben die Menschen nach ihren Überlebensstrategien befragt. Können Sie diese genauer beschreiben?

Schangatas
Ruinen dienen Kindern als Spielplätze. Foto: Sarina Adambussinowa

Eine weit verbreitete Praktik in den Neunzigern war es, Gebäude zu zerstören, das Baumaterial abzutragen und zu verkaufen. Dabei kam es häufig zu Todesfällen. Die zentrale Schule wurde nach diesem Muster zerstört und an ihrer Stelle eine Metzgerei errichtet. Es gibt nur noch wenige Bäume, weil die Menschen das Holz zum Heizen und Kochen verwendeten. Der Handel spielt eine wichtige Rolle. Es gibt eine Art Kreditsystem, weil es nur wenig Geld in der Stadt gibt. Die Menschen verschulden sich, um Lebensmittel oder Kleidung zu kaufen. Selbst wenn die Leute genug Geld haben, machen sie Schulden. Jeder lebt so. Es ist Teil der lokalen Mentalität.

Da es keine kulturellen Einrichtungen gibt, haben die Menschen ein eigenes Business entwickelt, das sich „Toy“ (zu Deutsch: Feier) nennt und sehr beliebt ist. Jedes Wochenende finden von Donnerstag bis Samstag große Feste statt, für die die Menschen einen Teilnehmerbeitrag zahlen müssen. Für Außenstehende kostet es etwa 10.000 bis 15.000 Tenge, für Freunde und insbesondere Familienangehörige hingegen mehr. Alles wird so gefeiert: Hochzeiten, Geburtstage, der Kauf eines Autos. Viele begründen dies mit den Worten: „Wir leben nur heute, wir wissen nicht was morgen geschieht.“

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Was hat Sie während Ihres Aufenthalts am meisten beeindruckt?

Am Ende des Tages konnte ich meist nicht einschlafen. Man hört diese Geschichten und hat den Eindruck, dass die Lage hoffnungslos ist. Ich hatte häufig das Gefühl, dass die Bürger Angst vor der lokalen Stadtverwaltung haben. Diese Furcht vor lokalen Autoritäten kenne ich auch aus anderen monoindustriellen Städten Ostkasachstans. Schon am ersten Tag wurde uns geraten, sich niemals an die Polizei zu wenden, selbst wenn etwas passieren sollte. Das seien die gefährlichsten Leute. Für mich war es, als gäbe es in Schangatas keine Realität. Die Stadt ist ein System, das nur nach bestimmten Regeln funktioniert.
Überraschenderweise beschweren sich die Menschen häufig über die Situation, machen aber nichts um sie zu ändern. Sie erwarten, dass der Staat die Sache in die Hand nimmt. Das macht einen Wandel schwierig.

Wie hat sich Schangatas in den vergangenen Jahren verändert? Wie sehen Sie die Zukunft?

Seit 2013 wird die Stadt durch die finanzielle Hilfe des russischen Unternehmens „EuroChem-Karatau“ unterstützt. Mit dem Geld hat die Stadtverwaltung den Bahnhof renoviert, den Bau der zentralen Straße finanziert und zwei Parkanlagen errichtet. Außerdem wurden eine Schule und ein Kindergarten in der Stadt gegründet. Seit der finanziellen Unterstützung gibt es eine Zugverbindung zwischen Schangatas und Taras. Neben „EuroChem-Karatau“ gibt es auch ein staatliches Entwicklungsprogramm, das von 2012 bis 2020 läuft. Ein großes Problem waren bisher die leerstehenden Gebäude. Im Rahmen des Programms wurden mehr als 116 Gebäude abgerissen.

Die wirtschaftlichen Veränderungen sind sichtbar, aber es braucht politische Reformen, um die gesamte Situation zu verbessern. Die Stadtverwaltung ist abhängig von der Regierung in Nur-Sultan und nicht daran interessiert, eigene Initiativen umzusetzen. Ich denke, dass die Stadtverwaltung unabhängiger und pflichtbewusster an die Sache rangehen müsste, um den Menschen aktiv zu helfen. Mehr junge Leute mit progressiven Ideen müssen sich engagieren und von der Regierung gehört werden. Ich hoffe sehr, dass es besser wird, aber es ist ein langer und komplizierter Prozess.

Das Interview führte Karina Turan.

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