Zu viel Theorie für die Praxis: Wenn sich eine zickig-bissige Moralapostelin gegen einen betrunkenen Wikingerheld behaupten will, nützen Ratschläge zur erfolgreichen Kommunikation herzlich wenig. Übrig bleibt eine explosive Mischung.

In der Interessensklärung mit anderen Menschen soll man stets konstruktiv sein und in Ich-Botschaften kommunizieren. Man soll aber auch authentisch sein, geradeheraus sagen, was Sache ist, Rückgrat zeigen und einen klaren Standpunkt einnehmen.

Als wäre das nicht schon schwierig genug, geht’s noch weiter: Am Ergebnisziel der Diskussion orientiert, wähle man die passende Kommunikationsebene und –form: den Appell, die Selbstoffenbarung, den Sachinhalt oder die Beziehungsebene. Und halte, selbstkritisch reflektierend, olle Kamellen und Verletzungen von früher und damals aus der aktuellen Situation heraus. Damit es mit dem Transport der Botschaft auch ganz sicher klappt, beachte man noch eventuelle kulturelle Unterschiede bei den Interaktionspartnern: zwischen Mann und Frau, jüngerer und älterer Generation, Herkunft und Sozialisierung. Und prüfe die Empfangsbereitschaft des Interaktionspartners: Ist er generell und aktuell willens und in der Lage, komplexen Sachverhalten zu folgen UND dann gegebenenfalls auch noch bereit, eventuelle Fehler einzusehen oder verbindliche Vereinbarungen einzugehen? Na also, ist doch glasklar und kinderleicht! So viel zur Theorie.

Jetzt kommt die Praxis. Zuletzt war ich auf einem Konzert. Das war alles in allem sehr gelungen. Es gab nur einen einzigen Störfaktor: Ein junger großer starker Bursche, umringt von kleinen Strolchen, hat sein Heldentum mit einigen Litern Bier und lautem strudeldummen Gegröle unterstrichen – besonders gern mitten in die Kunstpausen der Lieder hinein. Dagegen musste ich etwas unternehmen! Doch was tun oder sagen? Eine kurze Situationsanalyse: Mein Interaktionspartner war viel stärker als ich, Typ Platzhirsch, aus dem Ausland, eventuell Skandinavien, dumm, betrunken und umgeben von seiner Fangemeinde. Erstes Zwischenfazit: Die Aussicht, dass er eine Mitteilung verstehen kann und will, sein Fehlverhalten einsieht und es abstellt, schien äußerst gering. Ein besonders schwer einzuschätzender Faktor war das Ehrgefühl. Wenn sich in seinem Stammbaum Wikinger tummeln sollten, dann Gute Nacht, Marie! Ich: Schmächtig. Auf 180. Typ Moralapostel. Zickig-Bissig. Zweites Zwischenfazit: Eine explosive Mischung. Die Aussicht, dass er sich von MIR zurechtweisen lässt, ging gegen Null.

Während mein Hirn noch auf Hochtouren arbeitete, 33 mögliche Botschaften und 99 wahrscheinliche Szenarien durchspielte, in der auch ein Fausthieb vorkam, flutschte mir ein scharfkantiges „Shut up!“ durch die gewetzten Zähne. Huch! Was war das? Es entstand so etwas wie eine Schockstarre, die ich dazu nutzte, mir wirkungsvolle Abwehrtechniken auszudenken: weglaufen, ducken, gegen das Schienbein treten, … Jedoch, der Fausthieb blieb aus, es entstand so etwas wie ein Kompromiss: Um seine Ehre zu retten, äffte mich der Bursche nach. Dabei wich er meinem strengen Blick aus, und so unterließ auch ich weitere Provokationen. Fazit: Meine Botschaft ist angekommen. Das Grölen hat er immerhin etwas, wenn auch nicht ganz, eingestellt. Er hat sein Gesicht gewahrt. Und es ist nicht eskaliert. Mehr war wahrscheinlich nicht aus der Situation herauszuholen. Und ganz wahrscheinlich war auch eine gehörige Portion Glück im Spiel. Insofern empfehle ich dies ausdrücklich nicht als good practice weiter! Wem ein Shut up! durch die Zähne schlüpft, dem wünsche ich auch ganz viel good luck! dabei.

Julia Siebert

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