Seit 2010 gleicht Kasachstans ehemalige Hauptstadt Almaty einer permanenten Baustelle: Bürogebäude recken sich in den Himmel, moderne Einkaufszentren nach US-amerikanischem Vorbild schmücken das neue Stadtbild und an jeder Ecke entstehen futuristische Wohnkomplexe. Der kasachische Bauboom lockt zwar zahlreiche Investoren an, doch er bringt auch Probleme mit sich.

„Der Bausektor ist nach dem Energiesektor der wichtigste Wirtschaftsbereich Kasachstans. Vor allem der massenhafte Bau von Wohnraum führt in Städten wie Almaty zu starkem Wirtschaftswachstum“, sagt Adil Nurmakow, Mitbegründer und Geschäftsführer der nichtstaatlichen Organisation Urban Forum Kazakhstan, die sich mit Stadtplanung und Urbanisierung in Zentralasien beschäftigt. „Der Wohnungsbau dient nämlich als sichere Anlegemöglichkeit für private Investoren. Anstatt das eigene Geld bei einer Bank zu lagern, kaufen Menschen hier lieber eine zweite oder dritte Wohnung, um sie zu vermieten. Deshalb interessieren sich Bezirksverwaltungen und Unternehmen gleichermaßen für den Wohnungs-markt.“

Die Rolle des ÖPNV in Almaty

Doch Steuervergünstigungen, fehlende administrative Regulierung von Planung und Ausführung sowie die Monostruktur der kasachischen Wirtschaft verkomplizieren Urbanisierungsprozesse in Almaty. „Die Stadt verkauft den Grund und Boden an Baufirmen, die einfach das bauen, was sie wollen. Stadtteile werden in Stücke geteilt, es entstehen irgendwelche Straßen und unvollständigen Wege, ohne vorherige Debatte darüber, was aus welchem Grund für welche Zielgruppe gebaut werden soll. Das heißt, es gibt keine zusammenhängende Idee davon, wie Bezirke gestaltet werden können. Das führt dazu, dass die Ortsteile unkomfortabel werden für die Menschen, die dort leben“, so der Politik- und Medienexperte. Multifunktionale Bebauungspläne seien daher unabdingbar für eine immer schneller wachsende Stadt wie Almaty. Bezirke sollten neben Arbeitsplätzen und Bildungsinstitutionen auch Freizeitaktivitäten, Erholungsorte und eine soziale Infrastruktur bieten.

Darüber hinaus spielt der öffentliche Nahverkehr eine große Rolle. Obwohl die Stadt die Preise für öffentliche Transportmittel wie den BRT-Bereich (Bus Rapid Transit) und die Untergrundbahn bereits stark subventioniert, sieht Nurmakow auch hier Verbesserungsbedarf: „Nicht alle Teile der Stadt werden mit Buslinien abgedeckt. Die U-Bahn-Stationen sind zudem nicht sehr effektiv gebaut worden und häufig nicht gut erreichbar. Die Haltestellen sind zum Beispiel sehr weitläufig und die Bahnen fahren in großen zeitlichen Abständen. Das ist einer der Gründe, wieso so viele Menschen auf Autos als alltägliches Transportmittel zurückgreifen − auch weil Parkplätze und Benzin so kostengünstig sind.“ Sichere Fahrradwege und automatisierte Fahrradverleihsysteme wie Almaty Bike sind deshalb erste Schritte, um Staus und Gedränge in der Stadt umzulenken und alternative Transportwege attraktiver zu machen.

Aktive Einbindung der Zivilgesellschaft

Seit 2015 arbeitet Urban Forum als unabhängige Organisation daran, diese Probleme gemeinsam mit Stadtbewohnern, Bezirksämtern und Geschäftsstrukturen zu lösen. Dabei verstehen Adil Nurmakow und seine Mitarbeiter Stadtentwicklung als kollektiven Austausch unterschiedlicher Interessensgruppen, die im urbanen Raum agieren. Urban Forum tritt an dieser Stelle als Kommunikationsplattform auf. „Unsere grundlegende Logik ist folgende: Zuerst untersuchen wir ein stadtpolitisches Thema, in dem wir gesellschaftliche Probleme wahrnehmen. Danach besprechen wir unsere Forschungsergebnisse mit Experten –Soziologen, Anthropologen, Historikern, Architekten, Urbanisten und vielen mehr –
und halten fest, wie sie unsere Resultate beurteilen. Dann gehen wir in die öffentliche Diskussion und geben Empfehlungen an Staat und Wirtschaft heraus.“

Urbane Lebensräume leben von der Aushandlung verschiedener Interessen. Urban Forum will den Dialog zwischen Bewohnern, Investoren, Aktivisten und Administration fördern und die jeweiligen Konfliktparteien zu einem Konsens begleiten. „Wir beschäftigen uns viel mit participatory budgeting. Das bedeutet, dass wir die städtische Zivilgesellschaft aktiv in die Finanzplanung von öffentlichen Geldern einbinden und bürokratische Teilhabeprozesse vereinfachen“, erklärt Nurmakow. Gleichzeitig steht die enge Zusammenarbeit mit Bezirksleitungen im Fokus. „Im vergangenen Jahr haben wir dazu beigetragen, dass Renovierungs- und Modernisierungspläne in bestimmten Bezirken Almatys verbessert und an die Bedürfnisse der Bewohner angepasst wurden. Wir bieten Ämtern und Firmen an, ihre Bauentwürfe zu prüfen, es braucht nämlich ein externes Organ, welches solche Entscheidungsprozesse parallel im Auge behält.“

Debatten um bürgernahe Stadtpolitik immer wichtiger

In europäischen Metropolen wird der Begriff der Gentrifizierung immer häufiger für stadtpolitische Konflikte verwendet. Gentrifizierung bezeichnet zunächst einmal einen Verdrängungsprozess. Einkommensschwache Wohnparteien werden durch wohlhabende Haushalte in bestimmten Bezirken ersetzt. Dadurch kommt ein grundlegender Strukturwandel in Fahrt: Umfassende Modernisierungsmaßnahmen der örtlichen Wohnhäuser, der Einzug von modernen Geschäften, Restaurants und Bars sowie die Etablierung von riesigen Bürokomplexen verändern einen Stadtteil, der vorher als unattraktiv galt. In Almaty sähe das anders aus, meint Nurmakow. „Dort, wo heute neue Gebäude gebaut werden, gab es vorher nichts. Das heißt, es wird nichts abgerissen oder umgebaut. Hier handelt es sich um die Bebauung von ungenutzter Fläche, die jahrelang brach lag. Bezirke, die vorher unbeliebt waren, werden also nicht modelliert und aktiver gestaltet. Womit wir es momentan zutun haben, ist eher ein gigantischer Massenbau, der eventuell in Zukunft das Potenzial zur Gentrifizierung hat.“

Nicht nur in Kasachstan, sondern auch in Kirgistan rücken öffentliche Debatten um bürgernahe Stadtpolitik stärker in den Vordergrund. Im Jahr 2019 eröffnete das Urban Hub in Bischkek. Dort können Bewohner und Aktivisten bei wöchentlichen Treffen mit Experten über Themen wie Radsport, Erholung, Umweltschutz und Architektur diskutieren, Projektideen umsetzen und gemeinsame Lösungen für ihre Anliegen finden. Und unter dem Hashtag #BishkekForPeople wird deutlich: Die Entwicklung von Städten in Zentralasien hängt vor allem von der zivilgesellschaftlichen Beteiligung ab.

Antonia Skiba

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