Der Bergsee Issyk besitzt eine wilde Aura von unberührter Natur. Hinter dem milchigtürkisen Wasser des Sees steigen die Berge steil auf. Die Baumgrenze, an der die dichten Nadelwälder in grüne, baumlose Weiden übergehen, ist hier ganz nah. Die Bergspitzen sind gekrönt von weißen, eisigen Schneehauben. Dieses schroffe Naturidyll ist nur circa 40 Kilometer von der pulsierenden, hektischen Metropole Almaty entfernt. Es ist auf einer Höhe von circa 1.700 Metern gelegen und in der ebenfalls Issyk genannten Schlucht zu finden. Um noch mehr Verwirrung zu stiften, tragen auch ein rauschendes Bergflüsschen vom See ins Tal sowie das kleine Städtchen, welches auf dem Weg hoch zum See passiert werden muss, den Namen Issyk.

Der See, der keinesfalls mit dem weit bekannteren Issy-Kul und der gleichnamigen Urlaubsregion in Kirgisistan verwechselt werden sollte, hat seinen Namen höchstwahrscheinlich von dem kasachischen Wort „Esik“, was soviel wie „Türe“, aber auch „Talenge“ bedeuten kann. Zu der Zeit, als der See entstand, hat sich allerdings noch niemand Gedanken über Namen gemacht: Er ist das Resultat eines gewaltigen Erdbebens vor etwa 8-10 Millionen Jahren. Der daraus resultierende Erdrutsch formte einen Damm, in dessen Becken sich der ursprüngliche See mit einer Länge von 1.850 Metern, einer Breite von 500 Metern und einer Tiefe von bis zu 80 Metern sammelte.

Die Beschreibungen des Semjonow-Tjan-Schanski

Zum ersten Mal erlangte der See gegen Mitte des 19. Jahrhunderts breitere Bekanntheit. Zu dieser Zeit bereiste und erforschte der russische Geograph, Botaniker und Insektenkundler Pjotr Petrowitsch Semjonow auf seiner Expedition durch Zentralasien das Tjan-Schan-Gebirge. Seine ausschweifenden Erkundungen der Berge nahe des heutigen Almaty brachten ihm schließlich seinen Beinamen Semjonow-Tjan-Schanski ein, unter dem er bis heute weithin bekannt ist.

Semjonow-Tjan-Schanski beschrieb den Issyk-See in seinen Tagebüchern: „Wir waren erfreut, zu unseren Füßen den „Grünen See“ (auf kasachisch „Jasyl-Kol“) zu sehen, der die reinste und transparenteste, dick bläulich-grüne Farbe eines Trans-Baikal-Berylls hatte. Jenseits des Sees erhob sich ein kühner und steiler, gezackter Kamm wie ein sich nach oben streckendes Eichhörnchen… diesen Berg nannte der Führer Issykbasch.“ Auch über die Entdeckung des inzwischen ausgestorbenen Kaspischen Tigers in der Gegend um den See und in der Issyk-Schlucht berichtet Semjonow-Tjan-Schanski in seinen Aufzeichnungen.

Beliebtes Ausflugsziel der Sowjetelite

Die große Zeit des Issyk-Sees war die Mitte des 20. Jahrhunderts. Der See war inzwischen weithin als Naherholungsgebiet der stetig wachsenden Stadt Alma-Ata bekannt und berühmt für sein grün-blaues Wasser und seine Schönheit inmitten des Bergpanoramas. Ab 1939 gab es eine Ausflugsbasis des Allunions-Zentralkomitees der Handelsunionen. Hochrangige Sowjetpolitiker waren seitdem oft und zahlreich zu Gast. 1959 eröffnete der sogenannte Issyk-Park und sorgte für einen enormen Touristenaufschwung.

Zahlreiche Ausflugslokale, Tanzflächen und ein Hotel direkt am Ufer des Sees buhlten nun um die Gunst der sowjetischen Politelite, aber auch des einfachen Proletariats. Mit römischen Säulen verzierte Aussichtspavillons und sozrealistische Statuetten und Plastiken sorgten für ein edles Freizeitambiente wie zu den Hochtagen des stalinschen sozialistischen Realismus. Die Führer der kommunistischen Welt gaben sich nun auf den Terrassen der Tanzlokale am See Issyk die Klinke in die Hand, Nikita Chruschtschow war gerngesehener Gast, auch der Revolutionsführer und Präsident der Demokratischen Republik Vietnam Ho Chi Minh soll hier zur Sommerfrische verweilt haben.

Eine der schlimmsten Tragödien der UdSSR

Die Freude in diesem Paradies der kommunistischen Eliten war nur von kurzer Dauer. Der 7. Juli 1963 war ein außergewöhnlich heißer und schöner Tag. Die Bevölkerung von Alma-Ata strömte zum See und in die Frische der Berge. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans Dinmuchamed Kunajew erwartete Alexej Nikolajewitsch Kosygin, zu jener Zeit Vorsitzender der Plankommission Gosplan und unter Generalsekretär Leonid Breschnew der zweite Mann im Staate UdSSR, zu einer Stippvisite am Issyk-See.

Zu dieser Zeit nahm die Tragödie hoch oben in den Bergen bereits ihren Lauf. Geröll rutschte ab und Landmasse begann, sich in Bewegung zu setzen. Weiter unten am See ahnte noch keiner der zahlreichen Erholungsgäste, was auf sie zukam, aber der sich bewegende Berg war bereits nicht mehr aufzuhalten. Als die sich unaufhaltsam in die Tiefe bewegenden, gigantischen Felsbrocken den See erreichten, waren Ruderboote und Ausflugsschiffe mit Ausflüglern auf dem Wasser unterwegs.

Unterkühlt und halb verhungert in den Bergen

Laut Augenzeugen wurden diese Boote durch die Wucht der Wellen an den Felswänden des Sees zerschmettert. Die Welle und die Geröllmassen schwappten über den wunderschönen Issyk-Park mit all seinen neuen Attraktionen hinweg, ungebremst weiter ins Tal und erreichte schließlich auch das Städtchen Issyk. Ein Großteil der Stadt Issyk, das dortige Wasserkraftwerk und die Wein- und Likörfabrik Issyk wurden komplett zerstört.

Soldaten konnten an diesem Tag rund 2.000 Menschen retten, auch Dinmuchamed Kunajew und Alexej Kosygin wurden evakuiert und in Sicherheit gebracht. Überlebende, hauptsächlich Wanderer, die sich zur Zeit der Tragödie oberhalb des Sees aufhielten, wurden noch Tage später unterkühlt und fast verhungert in den Bergen gefunden. Über den Erdrutsch und das Unglück berichteten die sowjetischen Zeitungen erst zwei Wochen später, dort war die Rede von 100 Todesopfern. Über Tragödien dieser Art berichteten die Staatsmedien in der Sowjetunion oft gar nicht oder nur sehr spärlich, dramatische Folgen wurden kleingeredet. Man geht heute eher von circa 2.000 bis 3.000 Opfern aus, die genaue Opferzahl ist allerdings ungeklärt. Der Erdrutsch von Issyk gilt als einer der größten und schlimmsten in der Geschichte der UdSSR. Der See Issyk mit seinem wunderschönen türkisen Wasser schien für immer verloren.

Mahnende Überbleibsel

Erst in den 1980er Jahren begann man damit, Erdmassen im Seebecken abzugraben und neue Zu- und Abflüsse zu schaffen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte sich das Becken zu rund ¾ wieder mit Wasser gefüllt. Der See erholt sich wieder und wird hoffentlich bald zu seiner vollen, alten Schönheit zurückkehren. 2019 wurden sämtliche Zufahrtswege erneuert oder neu angelegt. Seitdem steigen auch die Besucherzahlen wieder. Die Tourfirmen von Almaty haben Ausflüge mit dem Bus zum See bereits seit einiger Zeit wieder im Programm und auch private Ausflügler bevölkern das Seeufer wieder jedes Wochenende. Die relative Nähe zur Stadt und die sehr gute Erreichbarkeit machen Issyk inzwischen wieder zu einem der Top-Ausflugsziele in der Region und zu einem wundervollen Naherholungsgebiet.

In einem Punkt müssen die Wochenendausflügler allerdings noch immer große Abstriche machen. Wer zum See aufbricht, wird dort weitgehend auf sich alleine gestellt sein. Seine Mahlzeiten und Getränke, seine Wanderverpflegung und seinen Proviant muss man sich selbst mitnehmen. Von der großzügigen Gastronomie und der touristischen Infrastruktur, die es dort einst, in den 1950er Jahren einmal gab, ist bis heute nichts übrig geblieben. Ganz im Gegenteil, die Ruinen der ehemaligen Ausflugslokale, der Aussichtspavillons und des Hotels stehen noch immer wie mahnende Überbleibsel dieser Katastrophe des Jahres 1963 in den Hügeln rund um den See.

Neue Pläne für Gastronomie und Hotels

Die alten Grundmauern und Überreste der Gebäude sind nicht gleich zu entdecken. Sie sind von dickem Grün überwuchert und liegen versteckt hinter Büschen und Sträuchern. Aber wer will, kann die alten Mauern heute noch besichtigen. Eine kleine Treppe führt versteckt hinter Sträuchern einen steilen Hügel hinauf auf das Dach einer Ruine. Dort sind ein orthodoxes Kreuz sowie ein muslimischer Gedenkstein als Gedenkstätte zu finden. Wer sich noch tiefer in den Wald um den See herum begibt, wird hier und da kleine zugewucherte und verwitterte Mahnwachen und Gedentafeln finden, oft verschwundenen Einzelpersonen gewidmet.

Bis jetzt müssen sich die Ausflügler mit kleinen improvisierten Verkaufsständen der lokalen Bevölkerung begnügen, die sich auf dem Weg nach oben zum See befinden. Pläne, am See wieder eine Gastronomie oder ein Hotel entstehen zu lassen, gibt es immer wieder. Ob das an diesem heute wieder wilden und rauen, weitgehend unberührten Naturidyll aber eine gute Idee ist, ist eine andere Frage.

Philipp Dippl

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