Politisch und wirtschaftlich spielt in Kasachstan die Musik in den großen Ballungszentren Almaty und Nur-Sultan. Historisch und kulturell versprühen dagegen auch andere Städte einen besonderen Charme, die bislang noch unter dem Radar laufen. Eine davon ist Türkistan.
Frühmorgens um 5:45 Uhr heulen die Turbinen von Flug KC-7103 Almaty-Shymkent laut auf. In dem Flieger sitzen, dicht gedrängt und mit lax kontrollierter Maskenpflicht, etwa 150 Kasachen – und ich. Etwa zehn Stunden, einen Flug, eine Zug- und eine Taxifahrt sowie einen bedeutenden Fußmarsch später komme ich, müde und von der Hitze gequält, in Türkistan an. Ich lasse die selbsternannten Taxifahrer am Bahnhof links liegen und mache mich auf den Weg zu meiner Unterkunft.
Die Stadt Türkistan ist ganz anders als Almaty. Fast die Hälfte der Einwohner sind Usbeken, daher ist es auch kulturell kaum mit dem Rest Kasachstans zu vergleichen. Entsprechend erinnert auch das Stadtbild nicht an Almaty oder Nur-Sultan, sondern an die Wüstenstädte des Mittleren Ostens. Zum Ruf des Muezzins gehe ich auf sandigen Straßen durch Viertel über Viertel voll lehmverputzter Ziegelbauten. Gas- und Stromleitungen sind offen in Kopfhöhe verlegt und hin und wieder kreuzt ein Rind oder Kamel meinen Weg.
Jahrhundertealtes geschichtliches Erbe
Für Rinder und Kamele bin ich aber nicht nach Türkistan gekommen. Mein Interesse gilt vielmehr dem kulturellen und wirtschaftlichen Stadtzentrum, etwa drei Kilometer von meiner Unterkunft entfernt. Hier befinden sich dicht an dicht Museen, Einkaufsstraßen, Universitäten, Ausgrabungsstätten und vor allem das berühmte Mausoleum zu Ehren des islamischen Gelehrten und Anhängers des Sufismus Hodscha Achmed Yasavi. Dieses wurde im späten 14. Jahrhundert im Auftrag des Heerführers Timur an der Stelle von Yasavis Einsiedlerzelle und seines Grabmals errichtet. Auch wenn das Mausoleum nach Timurs Tod im Jahre 1405 niemals fertiggestellt wurde, sollte es als Vorbild für zahlreiche Gebäude in seiner Hauptstadt Samarkand dienen, und gilt noch heute als architektonisches Meisterwerk.
Auch als Pilgerstätte etablierte sich das Mausoleum. Drei Reisen nach Türkistan, so heißt es, sind äquivalent zu einer Pilgerfahrt zur Kaaba in Mekka. Doch nicht nur Muslime und Architekturfans, sondern auch Freunde der Geschichte Zentralasiens kommen im Mausoleum auf ihre Kosten. Die Khans und Sultane nach Timur waren sich der religiösen Symbolik Türkistans selbstverständlich bewusst, und Dutzende ließen sich in Türkistan zum Herrscher ausrufen oder nach ihrem Tod im Mausoleum beisetzen. Das verleiht der Stadt eine zentrale Rolle im Herrschaftsgefüge des kasachischen Khanats, das auf Timur folgte. Dem Mausoleum selbst brachte es 2003 den Status als UNESCO-Kulturerbe ein.
Kasachstans Tourismusstrategie für Türkistan
Auf der Anziehungskraft des Mausoleums lässt sich aufbauen. Daher arbeitet Kasachstan seit 2018 an einer Tourismusstrategie für Türkistan. So wurden umgerechnet 700 Millionen Euro in Projekte für Bepflanzung und Infrastruktur investiert, Türkistan zum Zentrum einer eigenen Region erklärt, und erst letztes Jahr eine Universität für Tourismus eröffnet, in der Türkistans Jugend zu Arbeitskräften für den neu entstehenden Industriezweig ausgebildet werden soll. Auch die Digitalisierung wurde vorangetrieben, zahlreiche Websites in Betrieb genommen, und eine eigene App entwickelt. Zentrum der Tourismusstrategie ist allerdings die neu eröffnete Karavansaray nahe dem Mausoleum.
Die Karavanserei muss man sich als riesige Freizeitanlage mit farbenfroh-traditionellen Erlebnis-Events und Weltmarkengeschäften, verwinkelten Gassen und orientalisch inspirierter Architektur vorstellen, angelegt um eine künstliche Lagune mit türkisgrünem Wasser. Das macht sie zu einem lohnenden Reiseziel für diejenigen, die das eher religiös und geschichtlich interessante Mausoleum nicht anlocken kann. Und die Strategie geht auf. Immer mehr Reiseanbieter drängen auf den neuen Markt und locken Pauschalreisende mit heißem Wetter, Visafreiheit und niedrigen Kosten.
Touristische Infrastruktur in Türkistan noch ausbaufähig
Ist Türkistan also das ideale Reiseziel? Einiges spricht dagegen. Die ständigen Stromausfälle bereiten nicht nur technikaffinen Menschen Kopfzerbrechen, sondern sabotieren auch alltägliche Elektrogeräte wie den Kühlschrank oder die elektrische Zahnbürste. Außerdem werden vor allem ausländische Touristen Probleme haben, sich außerhalb der Karavanserei zurechtzufinden, wo fast niemand Englisch spricht und selbst Busfahrpläne noch Zukunftsmusik sind. Ganz zu schweigen davon, dass keiner der großen Onlinekartenanbieter wie Google Maps oder 2GIS die Stadt ausreichend detailliert
darstellt.
Vier Tage nach meiner chaotischen Anreise sage ich Türkistan Lebewohl. Meine neuen Freunde vor Ort haben mir für umgerechnet etwa 5 Euro ein Taxi bis nach Shymkent organisiert und ich merke, wie einfach und billig Reisen hier ist, wenn man sich auskennt. Türkistan mag noch nicht für den Massentourismus geeignet sein, zumindest nicht aus Europa. Aber es ist ein Geheimtipp für Pioniere, die sich auf neue Erfahrungen einlassen können.