Zum Leben und Werk des Schriftstellers Anatolij Kim

Ein grelles orangefarbenes Taschenbuch in einer alten Holzkiste fällt mir ins Auge, im hintersten Teil des kleinen Innenhofes eines Berliner Mietshauses. Das Bild auf dem Einband und der Titel machen mich neugierig: „Eichhörnchen“ (Белка) von Anatolij Kim. Obwohl die Ausgabe aus dem Jahr 1989 ist, scheint das Buch sehr gut erhalten zu sein. Der Verkäufer lächelt mich an: „Na, was gefunden?“ Ich nicke zufrieden und bezahle.
Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Der Schreibstil erinnerte mich an Michail Bulgakow oder Nikolaj Gogol und war trotzdem einzigartig: aufbrausend, nach innen gekehrt, märchenhaft und gleichzeitig realitätsnah. Traumsequenzen und Zeitsprünge beleben die Erzählung, während die Anonymität von Lohnarbeit und der Verlust von Natur und Kreativität wiederkehrende Motive darstellen. Anatolij Kim gelingt es, die Moderne des sowjetischen Großstadtlebens mit der Deportation der koreanischen Minderheit (Korjo-Saram) nach Zentralasien zu verflechten und erzählt dabei seine eigene Familiengeschichte, ohne dabei explizit autobiographisch zu werden.

Die ersten Opfer Stalins

Kim ist 1939 in eine koreanisch-stämmige Familie in Südkasachstan geboren. Seine Eltern wurden zwei Jahre zuvor im Zuge stalinistischer Repressionen nach Zentralasien deportiert. Zu dieser Zeit wurden über 170.000 koreanische Bauern, Fischer und Intellektuelle aus dem Osten Russlands nach Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan vertrieben. Die Korjo-Saram gelten als erste ethnische Minderheit, die von Stalins Deportationsgesetzen betroffen war. In den Folgejahren litten auch Russlanddeutsche, Krimtataren, Tschetschenen und viele weitere Bevölkerungsgruppen unter den Zwangsumsiedlungen. Hunger, Anfeindungen, Isolation und Entwurzelung prägten die Anfangsphase der Deportierten in den Siedlungsgebieten.

Erst nach 30 Jahren stabilisierte sich der Lebensstandard der koreanisch-stämmigen Sowjetbürger in Zentralasien wieder, allerdings auch nur durch starke Anpassung an die sowjetische Mehrheitsgesellschaft. Dies bedeutete, dass sich nachfolgende Generationen immer seltener mit der eigenen Muttersprache und kulturellen Traditionen beschäftigen. Sogar koreanische Vor- und Nachnamen wurden vermehrt durch russische Namen ersetzt.

Kindheit ohne Eltern

Der Vater Anatolij Kims starb im Koreakrieg, seine Mutter erlag dem Hunger. Die Erinnerung an den Tod der Mutter verarbeitet er in seinem Roman, indem er sie szenisch, fast wie einen Traum beschreibt: der dunkle, scheinbar endlose Wald, der schlaffe Körper der Mutter gegen einen Baumstamm gelehnt, und das einsame, zurückgelassene Kind, welches das Leben aus den Augen der Mutter entweichen sieht.

Als Waisenkind überlebt Kim den Krieg und wächst bei einer russischen Pflegefamilie auf. In Moskau studiert er Kunst und Literatur, schreibt Prosa und Gedichte, bis er 1973 erste Erzählungen veröffentlicht. In der Sowjetunion steigt er als geschätzter Schriftsteller auf und publiziert bis in die 1990er Jahre hinein weitere Romane und Kurzgeschichten, die immer wieder die koreanisch-sowjetische Geschichte thematisieren. Heute lebt der 83-jährige Autor im Schriftsteller-Dorf Peredelkino in der Nähe von Moskau.

Geschichten zwischen Russland, Korea und Japan

In Anatolij Kim habe ich einen russischsprachigen Autoren gefunden, der die emotionalen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Vertreibung und Deportation literarisch festhält und die kulturelle Vielfalt Zentralasiens verkörpert. Besonders die Geschichten Kims, die auf der Grenzinsel Sachalin spielen, symbolisieren die engen historischen Verbindungen zwischen Russland, Korea und Japan.

In der Erzählung Lotos kehrt der Protagonist nach jahrelanger Arbeit als Moskauer Maler auf die Insel zurück, um sich von seiner sterbenden Mutter zu verabschieden. Der Roman Die Kräutersammler handelt von einem sterbenden Arzt, der seine letzten Lebenstage auf Sachalin verbringen möchte und dafür seine Familie verlässt. Dabei verknüpft Kim die Gefühle seiner Figuren mit dem Wetter und der Landschaft der Insel: Die Nächte sind stockdunkel und der kalte Wind heult gegen die kleinen Hütten; rauschendes Meer, salzige Luft, innere Einkehr, Einsiedlertum.

So zufällig ich auf Anatolij Kim gestoßen bin, so tief bin ich dank ihm in die koreanisch-sowjetische Geschichte versunken.

Antonia Skiba

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