Katharina Martin-Virolainen ist in der russlanddeutschen Community kein fremdes Gesicht. Im Jahr 1997 kam sie mit ihrer Familie als Spätaussiedlerin aus Russland nach Deutschland. Ein Teil ihrer Familie wurde Mitte der 1930er Jahre aus Wolhynien in der Ukraine nach Kasachstan deportiert. Anfang September besuchte sie nicht zum ersten Mal das Dorf Kamenka in der Region Aqmola, in welchem sie viele Stunden ihrer Kindheit verbracht hat. In diesem Beitrag hat sie ihre Gedanken zusammengefasst.
1936 Ein letzter Blick auf die Heimat. Die Familien Hanke, Hom, Martin und Nickel aus dem deutschen Dorf Dubowaja in der Ukraine werden mit vielen anderen deutschen Familien in Viehwaggons gepfercht. Haus und Hof, Vieh und jeglicher Besitz zurückgelassen. Enteignet, entrechtet, entwürdigt. Wochenlang geht es bei unerträglicher Julihitze nach Kasachstan. Die Menschen werden ihre geliebte Heimat Wolhynien nie wieder sehen. Es ist ein Abschied für immer.
1991 Unser letzter Besuch in Kamenka. Meine erste Kindheitserinnerung. Meine Oma Linda, meine Onkel und Tanten sowie meine Cousins und Cousinen werden bald nach Deutschland auswandern. So wie viele andere Deutsche aus Kamenka. Wir besuchen sie ein letztes Mal in Kasachstan.
Ich erinnere mich an den Duft der Steppe, an die warme Erde, an die Kühe mit den lauten Glocken um den Hals, an den Garten meiner Oma Linda mit dem großen Apfelbaum, an meine Cousins und Cousinen, mit denen ich gespielt und herumgealbert habe, an meine Onkel, die gemeinsam gesungen und auf der Gitarre gespielt haben, meine Tanten, die gelacht und bei den Liedern mitgesungen und geweint haben.
Damals haben sich meine Eltern für immer von Kamenka verabschiedet. Sie sind nie wieder dort gewesen. Ich habe als Kind wahrscheinlich nicht besonders viel von diesem Abschied verstanden. Wir würden nicht wiederkehren, sagten meine Eltern – wohin? zu wem? Alle gehen nach Deutschland. Niemand bleibt. Also verabschiedete auch ich mich für immer von Kamenka.
2019 Ich kehre nach 28 Jahren zurück. Beim Anblick der Steppe hinter dem Dorf wird mir ganz warm ums Herz. Genauso habe ich das auch in Erinnerung. Und dieser Duft – dieser unvergleichliche Duft der Steppe, den ich in Deutschland immer wieder einzufangen versuche.
Das Haus meiner Großmutter in Kamenka steht einsam und verlassen. Niemand wohnt dort. Es tut weh, das Haus so zu sehen. Es ist noch voller Wärme von schönen Kindheitserinnerungen. Der Apfelbaum ist nicht mehr da. Das Haus ist genauso wie in meiner Erinnerung, nur der Hof und der Garten sind kahl.
Am Friedhof versuche ich, das Grab meines Großvaters zu finden, doch es gelingt mir nicht. Zu unübersichtliche Pfade, zu wenig Zeit und zu viel dorniges Gestrüpp, das an meinen Beinen reißt und blutige Wunden hinterlässt. Ich gebe auf und verabschiede mich von Kamenka. Auch diesmal für immer.
2024 Und wieder kehre ich nach Kamenka zurück. Diesmal nicht allein. Mich begleiten Paulina und Mark, meine beiden Kinder sowie ihre Freundin und (wie ich sie nenne) meine Theatertochter Amely. Auch Amelys Familie kommt aus Kamenka. Ihre Großeltern, ihre Onkel und ihr Vater lebten bis zur Auswanderung nach Deutschland im Jahr 1996 dort. Zuvor lebten Amelys Vorfahren in der Ukraine und wurden gemeinsam mit meinen Vorfahren deportiert. Über Jahrzehnte wandern unsere Familien nun schon nebeneinander.
Wir halten vor dem Dorf in der Steppe an. Die Kinder steigen aus dem Auto und laufen in alle Richtungen. Ihre Aufmerksamkeit gewinnen nicht die typisch weißen Häuser mit grünen und blauen Türen und Fensterrahmen am Dorfrand, sondern das Pferd und das Kalb, die in der Steppe grasen, oder auch die gelangweilten Katzen, die faul in der Sonne liegen. So wie es sich für die Jugend von heute gehört, packen die Kids ihre Handys aus und beginnen zu filmen. Jeder Augenblick, jedes Tier, jeder Baum, jedes Eckchen von Kamenka – alles will festgehalten werden.
Im Haus meiner Großmutter, das im Jahr 2019 noch einsam und verlassen stand, lebt anscheinend wieder jemand! Ich kann es genau erkennen: Der großzügig angelegte und prächtige Gemüsegarten, der gepflegte Hof, die Vorhänge am Fenster. Ich klopfe mehrmals. Niemand öffnet die Tür. Vielleicht haben die Menschen, die dort heute leben, Bedenken aufzumachen. Wir filmen also drum-herum. Alexej interviewt die Kinder vor dem Zaun – mit dem Haus im Hintergrund. Nun wollen wir weiter… doch dann kommt jemand um die Ecke…
Als ich die Frau sehe, wird mir sofort klar, dass sie im Haus meiner Großmutter wohnt. Ich laufe ihr entgegen, erkläre ihr die Situation, wer wir sind, was wir hier machen. Ich habe nicht einmal zu Ende gesprochen, da öffnet sie die „Kalitka“ und sagt:
„Wieso steht ihr dann vor dem Zaun? Kommt doch ins Haus!“
Dieses Gefühl kann ich kaum beschreiben, als ich nach 33 Jahren wieder das Haus meiner Großmutter betrete! Mein Herz klopft. Heute lebt dort ein älteres, kasachisches Ehepaar. Das Haus ist in guten Händen! Ich wundere mich, dass es so groß ist und so viele Räume hat! Wir dürfen in jedes Zimmer rein, dürfen alles filmen. Über eine Stunde verweilen wir im Haus, in dem ich als Kind so viele glückliche Stunden verbracht habe.
Als wir uns von unseren neuen Freunden verabschieden, erzählt mir die Frau folgendes: Jeden Tag geht sie mit ihrem Mann in die Steppe, um ihre Gänse zu hüten. Sie bleiben normalerweise den ganzen Tag draußen und kehren erst abends nach Hause zurück. „Aber aus irgendeinem Grund fühlte ich plötzlich so eine Sehnsucht, als würde mich etwas nach Hause ziehen“, berichtet sie. Das Gefühl ließ sie nicht los und als sie es nicht mehr aushielt, lief sie zurück. Ein paar Minuten später – und wir hätten uns verpasst! „Ihr habt mich wohl angezogen!“, lacht sie. So wird es wohl gewesen sein.
Wir laufen weiter durch die staubigen Straßen von Kamenka. Die Kinder suchen auf der Karte das Haus von Amelys Familie. Endlich finden wir es, doch hier haben wir weniger Glück. Es steht leer. Der Eingang ist zugewachsen. Ich beobachte, wie die Kinder über den Hof laufen und versuchen, durch die Fenster in das Hausinnere zu schauen.
Tief im Herzen tut es mir für unsere Amely leid, dass sie nicht in das Haus ihrer Familie kann. Ich erinnere mich an meine erste Reise in die Ukraine – ich habe damals auch nichts vorgefunden, doch ist aus dieser Reise mehr geworden, als ich mir das je hätte vorstellen können. Nein, auch Amely wird etwas mitnehmen können. Die meisten wichtigen Dinge sind eh unsichtbar. Und tatsächlich scheint Amely nicht enttäuscht oder betrübt zu sein und erzählt energisch in die Kamera, wie viel ihr diese Reise nach Kamenka bedeutet.
Die letzte Station ist der Friedhof. In der Stadt haben wir rote Nelken besorgt. Wir wollen sie bei unseren Vorfahren ablegen. Wir kämpfen uns durch die zugewachsenen Pfade und das Gestrüpp. Auf dem Friedhof sind nur wir. Sonst keiner. Wir rufen einander zu, wenn wir einen bekannten Namen entdecken. Es sind so viele Namen auf den Grabsteinen, die wir aus unserem Verwandten- oder Freundeskreis kennen. In Eppingen leben viele Leute aus Kamenka. Weil wir zu viele Blumen haben, beschließen wir auch an den Gräbern der Vorfahren unserer Bekannten ein paar Blumen zurück zu lassen. Manche Gräber werden gar nicht mehr besucht. Wer soll sie auch besuchen? Die Angehörigen dieser Menschen leben seit Jahrzehnten alle in Deutschland.
Nach einer langen Suche erblicke ich endlich am Ende des Friedhofabschnitts einen Grabstein – mit dem Namen meines Großvaters drauf! Ich rufe nach meinen Kindern. Sie eilen zu mir. Wir befreien das Grab von lästigen, trockenen Pflanzen, die sich um das Grab gewunden haben. Jetzt habe ich dich endlich gefunden, Großvater!
Der Tag neigt sich zu Ende. Die Kühe werden in das Dorf zurückgetrieben. So langsam wird es kalt in der Steppe. Wir müssen zurück. Es wird bald dunkel. Wir müssen wieder Abschied nehmen…
„Wenn wir das nächste Mal nach Kamenka zurückkehren…“, höre ich die Kinder im Auto untereinander sprechen und Pläne für den nächsten Besuch schmieden. Zunächst möchte ich automatisch darauf reagieren mit: „Ich weiß nicht, ob wir je wieder zurückkehren werden…“
Doch ich halte mich zurück. Vielleicht haben sie recht. Warum verabschiede ich mich jedes Mal von allen Orten für immer? Warum, wenn doch eine Hoffnung für eine Wiederkehr besteht? Oder bin ich so sehr durch die Geschichte meiner Familie gezeichnet, dass ich nicht anders kann?
Das ist wohl der Unterschied zwischen uns und unseren Kindern. Die junge Generation denkt nicht an den Abschied für immer. Die Jungen denken an die Zukunft. Sie sind voller Optimismus und die Vorstellung, an einen Ort nicht zurückkehren zu können, ist für sie überhaupt kein Thema. Der Gedanke gefällt mir: Nie wieder Abschied für immer nehmen…
Also verabschiede ich mich diesmal von Kamenka – aber nicht für immer. Irgendjemand wird schon an diesem Ort unserer Familiengeschichte zurückkehren. Ganz gleich, ob es meine Kinder, meine Enkelkinder oder weitere Nachkommen sein werden. Solange Kamenka als Erinnerungsort in den Geschichten meiner Familien weiterleben wird, ist eine Wiederkehr jederzeit möglich.
Katharina Martin-Virolainen