Wer schon einmal durch die postsowjetischen Länder gereist ist, wird an ihnen kaum vorbeigekommen sein: Die Kleinbusse, die in vielen Städten zum öffentlichen Nahverkehr dazugehören und selbst in die entlegensten Dörfer fahren. Im ersten Teil des Interviews mit Tonio Weicker und Wladimir Sgibnev ging es vor allem darum, wie Marschrutka-Systeme entstanden sind. Im zweiten Teil erfahren wir mehr über die Probleme und die Zukunft der Marschrukas. Das Interview führten Therese Bach und Othmara Glas.

>> Fortsetzung der vergangenen Ausgabe

DAZ: Marschrutkas gibt es ja flächendeckend, sowohl im innerstädtischen als auch im Überlandverkehr. Unterscheiden sich die Strukturen und der Umgang mit den Marschrutkas im Verhältnis von der Stadt zum Land?

T: Soweit ich weiß, gibt es in Russland keine Bestrebungen, das im dörflichen Bereich zu verändern. Meine Arbeit konzentriert sich aber hauptsächlich auf das urbane Phänomen.

W: Wir haben keine Doktorarbeiten, die sich explizit mit den Überlandstrecken befassen. Doch was die Verkehrsleistung angeht, ist das Funktionsprinzip das gleiche. Genauso gibt es dort diese unglaubliche Vielfalt an Organisationsformen: Große Firmen, kleine Firmen, Fahrer, die mit eigenen Fahrzeugen oder mit geleasten Fahrzeugen unterwegs sind. In jeder Stadt und jeder Region hat sich ein ganz eigenes, genuines System entwickelt. Im tadschikischen Chudschand gibt es von Monopolisten beherrschte Märkte.

In Tbilisi hingegen gibt es nur eine einzige Marschrutka-Firma, die infolge einer Ausschreibung den Markt übernehmen durfte. Wiederum gibt es Märkte wie in Bischkek, wo es viele kleine Firmen gibt. Innerhalb dieser Firmen variiert die Funktionsweise aber auch: Manche besitzen selber Autos und die Fahrer sind angestellt. In anderen Fällen gibt es geleaste Fahrzeuge mit Fahrern, die selbständige Unternehmer sind oder Fahrer fahren mit ihren eigenen, privaten Wagen.

Diese Flexibilität im Marschrutkabusiness – so unsere Theorie – ist einer der Gründe dafür, dass sich Marschrutkas so schnell und so massenhaft verbreitet haben. Die Marktzugänge sind niedrigschwellig und die Organisationsmöglichkeiten sehr divers. Was wir auf der Straße als Marschrutka erkennen, ist in sehr vielen Städten sehr ähnlich. Aber das dahinterliegende System kann sich radikal unterscheiden.

Gleichzeitig gibt es auch große Busse wie im Moskauer Vorortverkehr, die vom System her funktionieren wie eine Marsch-rutka, also wie ein nicht-subventioniertes Mobilitätsunternehmen mit privaten Fahrern. Auch wenn sie nicht so aussehen, wie wir uns landläufig eine Marschrutka vorstellen, sind diese Busse vom Prinzip her eine Marschrutka. Von daher war es für uns im Projekt sehr schwer festzulegen, was wir genau als Marschrutka definieren. Denn je nachdem, auf welchen Aspekt man sich konzentriert, stecken sehr unterschiedliche Organisationsformen und sehr unterschiedliche Fahrzeugtypen dahinter.

Was wird am Ende mit den Ergebnissen passieren? Sollen diese zum Beispiel von den Stadtverwaltungen verwertet werden?

Eine der typisch gelben Marschrutkas in Tbilisi.
Eine der typisch gelben Marschrutkas in Tbilisi. | Foto: Wladimir Sgibnev

W: Es ist nicht unser Ziel, den Stadtverwaltungen zu sagen, was sie mit den Marschrutkas machen sollen. Teilweise gibt es in unseren Projekten Leute, die Zugang zu jeweiligen Stadtverwaltungen haben, dort Interviews führen und im Austausch stehen. Aber es wird keine Politikempfehlungen unsererseits geben. Bei den Projekttreffen und Sommerschulen haben wir bisher gut lokale Experten einbinden können. In Tbilisi gibt es ziemlich enthusiastische Aktivisten die für die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs kämpfen. Da sind auch langfristige Arbeitskontakte entstanden. Da wird es sicher auch Nachfolgeprojekte mit deren Einbindung geben.

T: Das kann ich auch sagen von meinen Projekten. In Wolgograd zum Beispiel arbeite ich oft mit der örtlichen Universität zusammen. Es gibt viele Forscher vor Ort, die sich für Mobilitätsforschung, aber auch für lokale Stadtentwicklung interessieren. Das wird auch gerade institutionalisiert. Es ist eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit.

Da Sie Tbilisi erwähnen: Dort sind alle Marschrutkas gelb, es scheint ein sehr einheitliches System zu geben.

W: 2011 wurde der Markt komplett auf den Kopf gestellt, weil die Stadtverwaltung eine Art Ausschreibung für Marschrutka-Dienstleistungen gestartet hat. Da ist eine einzige Firma zum Zug gekommen und es wurde beschlossen, dass alle Fahrzeuge neu angeschafft werden müssen: Eine ganz neue Flotte von gelben Marschrutkas. Die alten sind verkauft worden und wandern zum Teil auch weiter gen Osten. Hinter manchen Flotten stecken auch lokale Geschichten: In Duschanbe hatte die Tochter des Präsidenten angeblich gute Arbeitskontakte nach Südkorea und so kam es zu einer Verordnung, dass alle neu angeschafften Marschrutkas Hyundai Starex sein mussten.

Andere versuchen Marschrutkas komplett abzuschaffen. Kasachstan scheint hier Vorreiter zu sein.

W: Astana ist ein Sonderfall. Es verwundert nicht, dass es dort keine Marschrutkas gibt. Es gibt, glaube ich, noch drei-vier Linien, die in den Außenbezirken verkehren. Das deckt sich mit der allgemeinen Feststellung, dass in Städten, in denen Marschrutkas reguliert werden sollen, sie zuerst vom Hauptplatz oder der zentralen Straße verbannt werden. Oft herrscht bei der Stadtverwaltung oder bei der Bevölkerung die Überzeugung vor, dass Marschrutkas nicht repräsentativ genug seien. Nichts, was einer Hauptstadt würdig ist.

In Bischkek gab eine Zeit lang die Regelung, dass Marschrutkas nur nachts den Ala-Too-Platz befahren durften. Tagsüber war es verboten. In Duschanbe darf die Hauptstraße, die Rudaki, nicht von Marschrutkas befahren werden, die Querstraßen aber schon. Was auf der Hauptstraße aber geht, ist, dass PKWs als Marschrutkas fungieren, die anscheinend das Stadtbild weniger stören. Der nächste Schritt ist dann der, dass in Städten wie Almaty oder Astana Marschrutkas nur noch auf den Außenstrecken fahren dürfen, damit Gäste und wichtige Personen im Stadtzentrum nicht vom Anblick der Marschrutkas gestört werden.

Worauf liegt der Schwerpunkt Ihrer Forschung in Kasachstan?

W: Dort haben wir eine Fallstudie in Astana. Unser Doktorand geht der Frage nach, wie die Bildung sozialer Netzwerke mit dem Transportverhalten von Schülern zusammenhängt. Er untersucht an einer Mittelschule, welche in einem Bezirk liegt, der von Marschrutkas angefahren wird, ob die Mobilität von Schülern Auswirkungen auf ihre Popularität hat. Er analysiert, ob es etwas ausmacht, wenn sie mit dem Taxi, dem Bus oder der Marschrutka fahren und welche Korrelationen es gibt – ob sie öfter im Kino sind, mehr Computer spielen, oder sich häufiger mit ihren Freunden treffen.

T: Ich möchte an dieser Stelle gerne die Internationalität des Projektes betonen. Ich habe zwei Betreuer: Einen hier an der TU Berlin und eine Betreuerin in Moskau. So ist das bei allen Doktoranden: Es ist immer ein binationales Team, auf das sich die Betreuungsleistungen unterschiedlich verteilen. Das macht es für mich wahnsinnig spannend. Wir haben Forschungsaufenthalte in all den Ländern und dadurch wird die Arbeit an der eigenen Doktorarbeit noch viel multiperspektivischer. Auch weil Wissenschaft immer unterschiedlich in jedem Land funktioniert. Das ist meiner Meinung nach ein sehr produktives Team.

Zum Schluss möchten wir noch die Frage nach der Zukunft der Marschrutki stellen: Wie geht es weiter?

T: Es gibt neue Organisationsformen. In Russland sieht man überall Yandex-Taxen. Das wird fortentwickelt zu Yandex-Marschrutkas. Über eine App wird errechnet, wer den gleichen Zielwunsch hat und man zahlt weniger, wenn man bereit ist, mit anderen zusammenzufahren. Die Marschrutka sammelt dann die Leute auf der Straße ein und fährt alle ins Zentrum. Das ist letztlich eine intelligente Bündelung von Passagierwünschen. So haben sich schon in den 1990ern die Routen gebildet: Es ging um das Passagieraufkommen. Das ist eine interessante Parallele.

W: In den frühen 90ern kam es auf die Marktkenntnis der Fahrer an. Heute digitalisiert sich der Markt.

Also ist das System “Yandex” die Zukunft?

T: Unternehmen wie Uber und Yandex-Taxi werden auch als Konkurrenz gesehen. Ich habe vor einigen Monaten in Rostow ein Foto aufgenommen. Ich saß neben dem Fahrer und habe ihn parallel interviewt, da war vor uns ein Wagen mit einem Schild, das den Fahrer direkt angesprochen hat. Der Werbeslogan lautet: „Für ein sicheres Einkommen, damit Sie Ihre Familie versorgen können.“ Der Fahrer hat das kategorisch abgelehnt. Aber das ist direkt nach dem Motto: Ihr Marschrutka-Fahrer seid prekär finanziert, kommt zu Uber, da geht es euch besser.

W: Was ein Hohn ist. Weil Uber und Yandex durch ihre digitale Organisationsform die zwischenmenschliche Komponente zwischen den Fahrern ausschließen. Die Fahrer kennen sich nicht mehr untereinander. Aber das Marschrutka-System funktioniert unter anderem auch deswegen so gut, weil die Fahrer sich an den Endstationen treffen und sich austauschen. Es gibt auch eine Art Hilfskassen. Sie treten jetzt vielleicht nicht direkt als Gewerkschaft auf, aber versorgen sich gegenseitig mit zinslosen Krediten, Nachrichten, Kontakten. Die Koordinierung erfolgt durch Eigeninitiative: Wer geht auf die Strecke raus, wer fährt in welchen Abständen wie viele Touren. Das ist schon so eine Art selbstorganisiertes System, welches auf einer sehr engen Solidarität der Fahrer untereinander basiert. Und durch die app-basierten Systeme wird diese Solidarität unter Fahrern ausgehebelt.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Mehr zum Marschrutka-Projekt finden Sie hier: http://Marshrutka.net/ (auf Englisch)

Teilen mit: