Sie wurden aus dem Land vertrieben, über den Kontinent verschleppt, als Spione behandelt und in Arbeitslager gesperrt. Heute sind die Russlanddeutschen von damals über 80 Jahre alt. In ihren Erzählungen blicken sie auf Verfolgung, Vertreibung und Misstrauen zurück, erzählen den Jüngeren aber auch von ihrem persönlichen Neuanfang und dem Gefühl, in Kasachstan endlich angekommen zu sein.

Allein zuhaus: Während die Angehörigen einst nach Deutschland auswanderten, blieben sie zurück. Für viele Russlanddeutsche ist die Einsamkeit im Alter am schlimmsten.

Als Irma Juwanen in einem kasachischen Bus ein Sitzplatz angeboten wird, steht für sie fest: Hier bleibe ich jetzt. In Russland wäre ihr das nämlich nie passiert, erzählt sie Jahrzehnte später. Als Angehörige der Deutschen Minderheit hat sie einen schweren Weg hinter sich: Von der einstigen Wolgarepublik wurden ihre Familie und sie mit dem Zug in die zentralasiatische Steppe verschleppt. „So lange gefahren“, wirft die alte Dame in gebrochenem Deutsch während ihrer Erzählungen immer wieder ein. Einen ganzen Monat seien sie damals unterwegs gewesen. Für junge Russlanddeutsche wie Wadislaw ist das unvorstellbar. Dennoch sind es die persönlichen Erinnerungen der Zeitzeugen, die die Geschichte der Kasachstandeutschen (oder auch Russlanddeutschen) für jene, die sie nicht miterlebt haben, angreifbar machen. „An der Universität lernen wir zwar die Sprache und die Geschichte, aber wir kennen die individuellen Schicksale nicht. Die interessieren uns aber besonders“, erklärt Wadislaw. Gemeinsam mit anderen Studenten der Deutsch-Kasachischen Universität macht er sich auf den Weg zu den wenigen noch lebenden Russlanddeutschen rund um Almaty, die einst im Arbeitslager dienen mussten. Unter der Begleitung von Elena Kess, der Leiterin des Seniorenklubs für Russlanddeutsche in Almaty, verteilen sie Medikamente, Kleidung und andere notwendige Hilfsmittel. „Mit dem Projekt ‚Verbindung der Generationen’ wollen wir die Jungen und Alten zusammenbringen, damit wir Verständnis fördern und das Vergessen aufhalten“, erklärt Swetlana Dowschenko den Gedanken hinter der Aktion. Als Leiterin der Jugendarbeit der Deutschen Wiedergeburt ist es ihr besonders wichtig, den Zusammenhalt zwischen Jung und Alt zu fördern.

Allein zuhaus: Während die Angehörigen einst nach Deutschland auswanderten, blieben sie zurück. Für viele Russlanddeutsche ist die Einsamkeit im Alter am schlimmsten.

Etwa 170.000 Menschen in Kasachstan zählen sich heute noch zur Deutschen Minderheit. Besonders im Emigrationsjahr 1989 wanderten zahlreiche Russlanddeutsche nach Deutschland aus und hinterließen mit den wenigen Landsleuten, die in den Dörfern zurückblieben, eine zerstreute Volksgruppe. „Bei Deutschen ist der familiäre Zusammenhalt nicht so ausgeprägt wie in Kasachstan“, erklärt Dowschenko. „Viele sind ohne Eltern, Geschwister und Verwandte nach Deutschland gegangen.“ Warum hätten wir mitgehen sollen, fragt etwa Anatoli während er im Schatten des Apfelbaums Kompott trinkt. „Wir haben hier unser Haus, unseren Garten, die Nachbarn und viele Verwandte, die anderen Minderheiten angehören. Wir sind eine internationale Familie“, erzählt seine Frau Swetlana.

Auf sich allein gestellt

Die beiden haben glücklicherweise viele Bekannte, die in Kasachstan geblieben sind. Sie und ihr Mann Anatoli leben in Esik, einem Dorf 60 Kilometer außerhalb von Almaty. Anatolis ältere und jüngere Schwestern sind beide damals nach Deutschland ausgewandert. „Sie leben jetzt im Saarland; wir skypen regelmäßig“, erzählt Anatoli und zeigt stolz auf den Computer in der Ecke.

Gemüse aus dem Garten ist für Anatoli und Swetlana eine wichtige Lebensgrundlage.

Anatolis und Swetlanas Haus ist umgeben von Bäumen und Sträuchern. „Schaut euch unseren Garten an!“, rufen sie bereits am Eingang den ankommenden Studenten zu. Auf die hauseigenen Äpfel, Tomaten und Beeren ist das alte Paar stolz. Ebenso auf die Selbstständigkeit, die sich die beiden bis ins hohe Alter erhalten haben – und erhalten mussten. Denn besonders als Russlanddeutsche sind sie hier auf sich allein gestellt. Beide engagieren sich seit Jahren bei der Deutschen Wiedergeburt in Issyk. Die Vereinigung der Deutschen Kasachstans verfügt über 33 Begegnungszentren und Organisationen in ganz Kasachstan, darunter auch ein Zentrum in Issyk. Hier engagieren sich andere Angehörige von Minderheiten wie Anatoli, um trotz der der schwindenden deutschen Bevölkerung deren Kultur und Sprache zu fördern.

Anatoli kennt die verbliebenen Deutschen in der Region und weiß, welche Schwierigkeiten und Sorgen sie haben: Zu geringe Pensionen, fehlende soziale Infrastruktur und das fehlende Netzwerk finden sich in fast allen Geschichten wieder. „Das größte Problem ist die Einsamkeit“, weiß auch Dowschenko. Die älteren Leute sind nicht mehr mobil und verlieren den Kontakt nach außen. „Aufmerksamkeit ist das wichtigste.“ Das zeigt auch der Besuch der Studenten bei Katharina Scharafotinowa: „Alle müssen arbeiten, sie haben keine Zeit, um sich um uns Alte zu kümmern.“ Durch ihre stark geschwollenen Beine kann sie ihre Wohnung im Mehrparteienhaus nicht mehr verlassen. Als die Studenten bei ihr klingeln, schlägt sie die Hände über den Kopf und strahlt bis zur Verabschiedung.

Die Studenten der DKU helfen den Russlanddeutschen mit kleingedruckten Beipackzetteln.

„Mit wem soll ich noch Deutsch sprechen? Es ist ja keiner mehr da“, erzählt auch Selma Isaenko. Die pensionierte Lehrerin hat 42 Jahre lang Deutsch unterrichtet. Heute lebt sie in einem kleinen Haus in Turgen, 70 Kilometer östlich von Almaty. Das Gehen fällt auch ihr äußerst schwer; nur mit Mühe gelangt sie in die kühle Wohnküche des Hauses, wo sie sich besonders im Sommer gerne aufhält. „Das Haus ist über 100 Jahre alt, wir haben nur Kleinigkeiten gemacht, die Fenster erneuert und die oberen Räume renoviert“, erzählt sie in flüssigem Deutsch. Wenn Selma deutsch spricht, hat sie zwei Gesichter: Auf dem einen lächelt sie und freut sich über die Gelegenheit, ihre Muttersprache anwenden zu können. Das andere Gesicht zeigt Traurigkeit und erzählt von einer nie vergessenen Vergangenheit.

Vertrieben und für immer geblieben

Im Zuge der Säuberungspolitik von Joseph Stalin wurde Selma wie zahlreiche andere Wolgadeutsche gezwungen, ihre Sprache und Kultur zu verraten. Bereits als Kind hat sie Hass und Misstrauen von Nachbarn und einstigen Freunden erlebt. „Schnell, schnell“ – dieses deutsche Wort der Eltern würde sie nie vergessen, wirft Selma ein, während sie auf Russisch von ihrem überstürzten Aufbruch von ihrer einstigen Heimat an der Wolga in Richtung Osten erzählt. Wie viele dieser Vertriebenen hat sie hier in Kasachstan eine neue Heimat gefunden, die sie keinesfalls mehr verlassen will. Nach Deutschland zu gehen, fiele auch Irma Juwanen nicht ein. Gerne erinnert sie sich an ihre erste Busfahrt und ihren Neustart in Kasachstan zurück: „Die Menschen haben uns hier so gastfreundlich empfangen. Ich fühle mich hier in Kasachstan endlich willkommen.“

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