Deutschland hat einen neuen Bundestag gewählt. Welche Eindrücke und Erinnerungen der Tag der Wahl bei unserer Kolumnistin Julia Siebert erweckte, lesen Sie hier.

Ich bin schon ganz aufgeregt, denn heute sind Wahlen. Das habe ich mir vor Monaten in meinen Kalender eingetragen und mir den ganzen Tag geblockt. Als eingefleischte Demokratin wählt man nicht nur so nebenbei und zwischendurch. Nein, so eine Wahl muss man feierlich begehen: Sich erst mit einem ausgiebigen Frühstück eine gute Grundlage schaffen und mit passender Musik feierlich einstimmen. Dann den Scheitel gerade ziehen, den Sonntagsmantel glatt streichen und aufrechten Hauptes ab zum Wahllokal losziehen. Dort schwungvoll im Zorro-Stil das Kreuz gesetzt; den Umschlag mit Sorgfalt schließen und mit fester Hand in die Wahlurne schieben. Kurz nachwirken lassen, den Wahlhelfern noch flüchtig zunicken, um dann würdevoll von dannen zu schreiten. Den ausgiebigen Sonntagsspaziergang nicht vergessen und später am Tag mit Freunden mit angehaltenem Atem den Wahlausgang verfolgen, um schließlich erleichtert aufzuatmen, in Freudentaumel zu verfallen oder eben … Nein, so weit mag ich noch gar nicht denken!

Ich kam jüngst mit meiner Sitznachbarin im Zug ins Gespräch und auf die Politik und die anstehenden Wahlen zu sprechen. Ich bekannte mich als fröhlich wählende Demokratin, sie nicht. Wir überlegten, wer von uns naiv sei. Sie meinte, dass es blauäugig sei, heutzutage noch an Parteien und Politiker zu glauben, denn sie täten sowieso, was sie wollten, in jedem Fall aber nicht das, was sie versprächen usw. usw. – mit anderen Worten sehe ich die allgemein um sich greifende Politikverdrossenheit. Ich muss mich immer zusammenreißen, solche Sprüche nicht als Worthülsen abzutun. Denn ich meinerseits, finde es blauäugig zu denken, dass es so einfach wäre, Politik zu machen und Programme umzusetzen. Zu komplex ist die Welt mit ihren 10 Millionen Herausforderungen und Kontextfaktoren, als dass man mit wenigen Sätzen sagen könnte, wie es ist oder nicht ist und was man dagegen, beziehungsweise dafür tun oder lassen solle. Drum gebe ich meine Stimme einem Herrn meines Vertrauens, der klar sieht und spricht. Diesem Herrn lastet meine Sitznachbarin an, dass er nicht diplomatisch sei; wenn er gewählt werden und ein Land führen wolle, müsse er schon ein bisschen diplomatischer auftreten. Ja, was denn nun? denke ich, erst sollen Politiker ehrlich sein, dann doch wieder nicht! Aber ach, man hat es nicht leicht mit den Politikverdrossenen. Aber sie können nichts dafür, da nicht allen die Wahlfreude in die Wiege gelegt wurde.

Ich für meinen Teil erinnere mich, dass ich schon in frühem Alter erfuhr: Wählen ist etwas Besonderes. Da es, wie ich schon mehrfach erwähnte, bei uns daheim keine religiösen Rituale gab und somit auch keine sonntäglichen Kirchgänge, sondern der Sonntag daraus bestand, lange zu schlafen, im Schlafanzug zu frühstücken und ausgiebig zu spielen. Bevor es in den Wald ging, wunderte ich mich, wenn sich meine Eltern am helllichten Tage plötzlich schick machten und feierlich verkündeten: „Wir gehen wählen!“ Ich wusste zwar noch nicht, wer Jesus und Gott waren und in welchem Verhältnis sie zueinander standen, aber dass es die SPD, CDU und andere Parteien gab und dass man sich für eine entscheiden muss, hat mich sehr beeindruckt. So ganz begriffen hatte ich es auf Anhieb noch nicht und rechnete alle Vereine mit drei Buchstaben der Politik zu, so auch unsere Verkehrsbetriebe KVB. Aber ich konnte es kaum erwarten, endlich 18 zu werden und selbst wählen gehen zu dürfen. Mein Wahlbedürfnis ist also tief verankert. Das nennt man die Sozialisation der fröhlich wählenden Demokraten. Was einem nicht in den Kinderschuhen steckt, lässt sich später nicht mehr einverleiben.

Julia Siebert

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