Die Aufbruchsstimmung, die in den Jahren 1985 bis 1991 in der Sowjetunion herrschte, erfasste auch die Russlanddeutschen und führte zu einer nie dagewesenen ethnischen Mobilisierung. Die damals entstandene Bewegung zur Wiederherstellung der nationalen Territorialautonomie, Auseinandersetzungen in Medien und Fachpublikationen mit der Geschichte sowie die Gegenwartslage und Zukunftschancen der deutschen Minderheit in der Sowjetunion erregen noch heute die Gemüter. Eine der wichtigsten Erscheinungen im nationalen Leben der deutschen Minderheit zur Perestroika und Nach-Perestroika-Zeit stellten die Aktivitäten der kulturpolitischen Gesellschaft „Wiedergeburt“ dar, die im März 1989 gegründet wurde.

Vom Staat unabhängige Organisationsformen hatten unter den Vertretern der deutschen Minorität in der UdSSR eine lange Tradition. Zum einen handelte es sich um religiöse Gemeinden und Brüderkreise. Seit Anfang der 1960er Jahre erlebten viele deutsche Glaubensgemeinschaften eine starke Politisierung, was insbesondere die Anhänger des Zentralrats der Kirchen der Initiativ-Baptisten betraf, die sich 1961 vom offiziellen Bund der Baptisten abspalteten. Sie scheuten die Konfrontation mit staatlichen Strukturen nicht, wandten sich an die internationale Öffentlichkeit und unterhielten Untergrunddruckereien. Der Sowjetstaat verfolgte sie mit aller Härte – Prediger und aktive Gläubige standen häufig vor Gericht und wurden zur Lagerhaft verurteilt.

Zum anderen ging es um Anhänger der Wiederherstellung der rechtswidrig aufgelösten Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Es kam in den 1960ern und späteren Jahren zur Bildung und Entsendung mehrerer Delegationen der Deutschen nach Moskau, die versuchten, durch Kollektiveingaben und Vorsprachen bei Entscheidungsträgern ihren Forderungen nach einer substanziellen Rehabilitierung Gewicht zu verleihen. Aktivisten und Sprecher dieser Initiativgruppen – oft Mitglieder der Kommunistischen Partei – wurden zwar nicht ins Gefängnis geworfen, erlebten jedoch gesellschaftliche Degradierung und Parteiausschlüsse.

Darüber hinaus existierten verschiedene Dissidentengruppen und Ausreiseanhänger, die der Staat als „gesellschaftlich schädlich“ betrachtete. Diese wurden ebenfalls verfolgt. Die bekannteste solcher Vereinigungen war wohl das in der Nähe der Hauptstadt Kirgisiens (ehemals „Frunse“, heute Bischkek) am 17. Dezember 1972 gegründete „Deutsche Nationalkomitee – für die Auswanderung der Deutschen aus der UdSSR“.

Nationaler Kulturbund soll Forderungen Gehör verschaffen

Erst die Perestroika schuf die Voraussetzungen für eine umfassende Berücksichtigung der nationalen Interessen zahlreicher Völker der damaligen UdSSR. Die sowjetdeutsche Öffentlichkeit versuchte zunächst, den Forderungen zur nationalen Gleichberechtigung – ähnlich wie in den 1960er Jahren – mehr Substanz durch repräsentative Delegationen zu verleihen. Im Jahr 1988 kam es zur Bildung und Entsendung von drei Abordnungen der deutschen Autonomisten. Die bedeutendste unter ihnen, mit insgesamt 56 Vertretern, weilte fast einen Monat lang vom 11. Juli bis zum 5. August in Moskau.

Ihr wichtigstes Ergebnis war das Aufsuchen und Vorsprechen in mehreren Redaktionen zentraler Zeitungen und Zeitschriften, die Verständnis für die Anliegen der deutschen Vertreter zeigten. Tatsächlich wurden seit September 1988 zahlreiche überwiegend positive Beiträge in den zentralen Printmedien, im Rundfunk und in den Fernsehanstalten zu historischen, kulturellen und aktuellen Problemen der lange Zeit totgeschwiegenen Nationalität veröffentlicht. Die deutschen Aktivisten gründeten gleichzeitig ein „Koordinierungszentrum zur Unterstützung der Regierung der UdSSR bei der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen“.

Zunehmend reifte der Gedanke, dass ein offiziell registrierter nationaler kulturpolitischer Verband weitaus mehr Chancen hätte, den legitimen Forderungen einer Minderheit Gehör zu verschaffen. Anfang November 1988 veröffentlichte die Zeitung „Neues Leben“ meinerseits einen Beitrag unter dem Titel „Zeit zur Konsolidierung der Kräfte“, in dem vorgeschlagen wurde, einen nationalen Kulturbund der Sowjetdeutschen als ihren offiziellen Vertreter zu gründen. Da eben dieser Artikel in russischer Sprache erschien, fand er eine große Verbreitung und löste zahlreiche und zum Teil kontroverse Diskussionen aus. Soweit ersichtlich, spielte diese Veröffentlichung bei der Entstehung der Gesellschaft „Wiedergeburt“ eine nicht ganz unwesentliche Rolle.

Intellektuelle als treibende Kraft

Getragen von den insgesamt positiven politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, gründeten die deutschen Aktivisten, die zu einem großen Teil bereits an den Delegationen des vorangegangenen Jahres teilgenommen hatten, Ende März 1989 in Moskau die unionsweite Gesellschaft „Wiedergeburt“ für Politik, Kultur und Bildung. Ihr oberstes Ziel bestand laut Statut darin, „nationale Bedürfnisse […] der über zwei Millionen Sowjetdeutschen zu befriedigen und vor allem die unrechtmäßig aufgelöste Autonome Republik der Sowjetdeutschen an der Wolga sowie eine Reihe nationaler Rayons in den Gegenden, in denen heute der Anteil der sowjetdeutschen Bevölkerung sehr hoch ist, wiederherzustellen.“

Zum Vorsitzenden der „Wiedergeburt“ wurde Dr. rer. nat. Heinrich Groth (Grouth), Abteilungsleiter eines Forschungsinstituts aus Berdjansk/Ukraine ernannt. Ihm standen zwei Co-Vorsitzende zur Seite: Dr. rer. nat. Juri Haar, Hochschullehrer aus Saratow sowie Hugo Wormsbecher, Schriftsteller und Redakteur des sowjetdeutschen, literarischen und publizistischen Almanachs „Heimatliche Weiten“.

Die Zusammensetzung des Gründungskongresses, der vier Tage vom 28. bis zum 31. März dauerte, spiegelte die treibende Kraft der akademischen Intelligenz im Kampf für Gleichberechtigung eindeutig wider: Von den 135 Delegierten (105 mit entscheidender und 30 mit beratender Stimme) waren 84 bzw. fast zwei Drittel Angestellte mit intellektuellen Beschäftigungen, darunter 12 (!) mit Doktortitel.

Ihnen zahlenmäßig weit unterlegen waren 32 Rentner, 13 Arbeiter und 4 Studenten. Als Angehörige der Titularnation einer künftigen territorialen Autonomie erhofften sich vor allem die Intellektuellen mehr Chancen im harten ethnischen Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen (Studienplätze an den Hochschulen, Stellen für prestigeträchtige Beschäftigungen usw.) und größere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten.

Sensibilisierung der örtlichen Intelligenz

Auf eine erhöhte gesellschaftspolitische Aktivität deutete der Umstand hin, dass 53 Personen bzw. 40 Prozent der Anwesenden auf dem Gründungskongress der „Wiedergeburt“ zugleich Mitglieder der KPdSU waren. Nicht minder interessant war ihre regionale Verteilung: 95 der Teilnehmer bzw. 70 Prozent kamen aus der RSFSR und nur 21 Personen bzw. 16 Prozent aus der Unionsrepublik Kasachstan, obwohl dort nach dem im Januar 1989 durchgeführten Zensus die Hälfte der Deutschen lebte. Kirgisistan war nur mit einem einzigen Delegierten vertreten, Tadschikistan und Usbekistan fehlten vollständig.

Das Bemerkenswerte an der geographischen Herkunft der Abgesandten bestand darin, dass sie exakt mit den territorialen Schwerpunkten der Autonomiebewegung übereinstimmte. Mehr als die Hälfte der Delegierten aus der Russländischen Unionsrepublik stammten aus den Provinzen Saratow, Wolgograd, Altai, Omsk und der Stadt Moskau.

In den drei zuletzt erwähnten Gebieten bestanden seit Jahrzehnten nationale Kulturinstitutionen wie Zeitungen, Redaktionen von deutschen Radiosendungen, Folklorekollektive, Schriftstellerorganisationen oder Abteilungen für Muttersprachlehrer an den Pädagogischen Fach- und Hochschulen, was deutlich zur Sensibilisierung der örtlichen Intelligenz nicht nur für sprachlich-kulturelle, sondern auch für rechtliche und politische Belange beitrug.

Erste offiziell anerkannte Organisation der deutschen Minderheit

Dasselbe galt für Kasachstan, in dem nur zwei Gebiete, nämlich Zelinograd (heute Astana) und Karaganda, zusammen mit der Hauptstadt Alma-Ata 80 Prozent der Delegierten stellten. Die erwähnten Verwaltungseinheiten in Sibirien und Kasachstan zeichneten sich zusätzlich dadurch aus, dass sich dort ein Teil der deutschen Bevölkerung in den noch vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Ortschaften konzentrierte, in denen die Muttersprache und die bäuerliche Volkskultur vergleichsweise intakt gehalten werden konnten. Dagegen wurden solche Hochburgen der Emigration wie etwa Südkasachstan und die mittelasiatischen Republiken kaum oder überhaupt nicht vertreten.

Davon berichteten das sowjetische Fernsehen und die führenden Zentralzeitungen „Prawda“ und „Iswestija“. Somit avancierte die „Wiedergeburt“ zur ersten offiziell anerkannten Organisation der gesamten deutschen Minderheit seit Beginn der 1920er Jahre. Ihr weiteres Schicksal war von Höhen und Tiefen geprägt. Heute existieren Organisationen der deutschen Minderheit mit diesem ursprünglichen Namen in Kasachstan und Usbekistan. In der Russländischen Föderation dagegen gibt es mit diesem Namen keine Verbände mehr.

Dr. Viktor Krieger, BKDR

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