Das Drama von Georg Büchner wurde vor 100 Jahren zum ersten Mal auf die Bühne gebracht. Anlässlich des 200-jährigen Büchner-Jubiläums verwandelte Regisseur Nuran David Calis den Stoff für den Sender „ARTE“ in einen Milieufilm aus dem Berliner Stadtteil Wedding.

Die Berliner Badstraße ist bunt. Auf den Bürgersteigen stehen die Auslagen von türkischen Gemüsehändlern, von denen sich Frauen mit farbigen Kopftüchern oder Frauen mit gewöhnlichen oder flippigen Frisuren, Studenten und Rentner bedienen. Vor dem Schaufenster nebenan stehen ein paar Kleiderständer mit preisgünstigen, bunten Hemden, Röcken und Hosen aus dem Nahen Osten und Asien. Ein paar Meter weiter sitzt ein Mann in schwarzer Hose und schwarzer Kappe auf seinem schütteren weißen Haar in der deutschen Bäckerei und trinkt Kaffee. Am Döner-Imbiss kauft sich ein junger Mann mit einer roten Baseballkappe auf dem Kopf gerade sein Mittagessen. So kann es aussehen, wenn man gerade durch die Badstraße in Berlin Wedding spaziert. Viele Menschen schätzen dort das multikulturelle Flair oder fühlen sich davon eingeengt und wollen dem Ganzen entfliehen.

Kiezfilm aus Berlin-Wedding

Beide Eindrücke zeigt der Regisseur Nuran David Calis in seinem Theaterfilm „Woyzeck“, der das Drama von Georg Büchner, vor der Kulisse der Badstraße in Berlin-Wedding inszeniert hat. Mit dieser Neuinszenierung ist es dem Theatermacher Calis gelungen, das Stück über den einfachen Soldaten, der sich von Frau und Chef ausnutzen lässt, und vor hundert Jahren in München aufgeführt wurde, auf die heutigen gesellschaftlichen Konflikte zuzuspitzen. Sein Film spielt im multikulturellen Milieu des Berliner Stadtteils Wedding und vermittelt damit mehr als nur das Büchnersche Drama vom einfachen Soldaten Woyzeck.

Es geht nämlich um gescheiterte oder fehlgeleitete Integration, um das Problem von Verdrängung und Zugehörigkeitsempfinden, Heimat und Zerbrechen von Identitäten. In dem Theaterfilm „Woyzeck“ ist die Berliner Badstraße eine Bühne, auf der gescheiterte Existenzen auftreten, die von mafiös organisierten jungen Männern türkischer Herkunft drangsaliert werden. Sie machen die Gesetze und bestimmen darüber, wer arm und wer reich sein darf.
So zieht der Bandenchef, der in Büchners Original dem Tambourmajor entspricht, die Fäden und engagiert einen Medikamentenlaboranten, im Original der Doktor, der spezielle Pillen für ihn entwickelt, um seine Prosituierten gefügig zu machen.

Woyzeck lebt auf und unter der Straße

Marie ist Woyzecks Frau, gespielt von Nora von Waldstätter. Sie spaziert mit ihrer Freundin, gespielt von Julischa Eichel, über die Badstraße. Die beiden stöbern in den Bekleidungsgeschäften nach attraktiver Kleidung, beide wollen den Männern gefallen. Dabei werden sie von einer Gruppe türkischstämmiger Männer, die vor einem schwarzen Masaratti stehen, beobachtet. Einer der Männer ist der Bandenchef eines Mafiaklans. Er umgarnt Marie, die nicht nur wegen ihrer Reize, sondern auch wegen des Geldes ihres Mannes Woyzeck attraktiv erscheint. Dieser unterzieht sich einer anstrengenden Laborstudie, bei der er leistungssteigernde Pillen nehmen soll und dabei nicht schlafen darf. „Drei Tage noch, ist doch gutes Geld“, sagt Woyzeck hilflos zu Marie und offenbart damit seine Abhängigkeit zu ihr und dem Laboranten. Darüber hinaus hat er noch eine andere, offizielle Arbeit. Woyzeck ist in dem Theaterfilm jedoch kein Soldat, wie ihn sich Büchner in seinem Drama ausdachte.
Der Theaterfilm-Regisseur Calis inszeniert die Figur Woyzeck, gespielt von Tom Schilling, als Müllsammler in den U-Bahnschächten und Haltstellen der Linie U-8. Er und seine Kollegen besaßen einst ein Restaurant, das sie an einen türkischstämmigen Besitzer verkauft haben.

Gewinner und Verlierer der Gesellschaft

So verdichtet Regisseur Nuran David Calis, der in Bielefeld aufgewachsen ist und Eltern türkisch-armenisch-jüdischer Abstammung hat, in seinem Film ein Problemfeld zum Thema Integration: Dabei ist im Film die Badstraße mit ihren Mafiaklans und Geschäften der Ort der Emporkömmlinge. Dementsprechend scheinen die U-Bahn-Schächte der einzig richtige Ort für die Müllsammler, den Verlierern in der von Calis vorgeführten Gesellschaft zu sein.

Oben auf der Badstraße sprechen die Schauspieler dem Milieu angepasst. Woyzeck benutzt Schimpfwörter, flucht im aktuellen Jargon der Jugend. Ebenso werden die sozialen Unterschiede durch den Wechsel zwischen deutscher und türkischer Sprache markiert. In den U-Bahn-Schächten spricht Woyzeck wieder mit den Worten Büchners. Die originalen Dialoge brechen durch die Kiezatmosphäre und lassen die Figur dadurch noch entrückter erscheinen.

Vor 100 Jahren wurde Georg Büchners Drama um den einfachen Soldaten Woyzeck zum ersten Mal in München aufgeführt. Zum 200-jährigen Geburtstag des Mediziners und Literaten aus Hessen, der mit seiner Schrift „Hessischer Landbote“ auf die sozialen Missstände der damaligen Zeit aufmerksam machte und mit seinem Drama „Dantons Tod“ die Ereignisse der französischen Revolution verarbeitete.

Von Dominik Vorhölter

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