Über 60 Athleten aus Zentralasien – das Gros aus Kasachstan – konkurrieren in Turin. Der Statistik nach sollte Kasachstan in diesem Jahr eine Medaille holen. Der Ruf als Winternation wäre aufpoliert, Olympia 2014 in Almaty etwas näher. Renoviert steht der legendäre Eisring Medeus schon bereit.

Schneegipfel und Olympiagold locken die Jugend der Welt nach Norditalien. Auf Brettern und Kufen messen sich 2500 Athleten noch bis zum 26. Februar bei der 20. Winterolympiade. Die Eröffnungsfeier lockte Milliarden vor den Bildschirm. Tag und Nacht flimmert die Medaillenjagd im TV, recht eintönig präsentiert sich der Medaillenspiegel. Vertraute Teams, die USA, Russland, Deutschland und Norwegen liegen wie fast in jedem Jahr vorn. Dahinter sind im Edelmetallranking aktuell noch 12 der 84 Teilnehmerländer gelistet. Unterhaltsamer als die Medaillenzählerei ist die olympische Buntheit. Gemäß dem Motto „Dabei sein ist alles!” nehmen Winterexoten wie Algerien, die Fidschi-Inseln oder Kenia teil.

In Zentralasien ist  Väterchen Frost  jedoch zu Hause. Hier gibt es gehörig schneebedeckte Gipfel und genug Platz zum Trainieren. Und so haben auch Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan eine Auswahl nach Turin entsandt. Turkmenen wurden keine erspäht. Es gibt eben mehr Wüstensand als Schneekristalle dort, und die Seele scheint ohne Wintersport glücklich.

Olympische Newcomer Zentralasiens

Seit der Auflösung der Sowjetunion ist so etwas wie das Duell Kasachstan – Russland im olympischen Eishockeyturnier am kommenden Samstag möglich. Olympia – ob im Sommer oder Winter – ist eben immer auch ein Spiegel seiner Zeit. Die 100-jährige Geschichte von Olympia in der Neuzeit hat den kalten Krieg, Boykotte und viele junge Nationen gesehen. Deutschland schickte zur Winterolympiade 1992 erstmals seit 1936 wieder ein Team für das vereinigte Land. Im Jahr 1992 startete unter der Neutralität der fünf olympischen Ringe auch das so genannte Vereinigte Team, dessen Athleten für allerhand Nationalitäten der Ex-UdSSR standen. Zwei Jahre später waren die drei Newcomer Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan selber am Start. Seit 1994 nehmen Sportler aus Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan an Winterspielen teil. In Salt Lake City 2002 waren zum ersten Mal auch Tadschiken dabei. Für Turin haben in diesem Jahr fünf Sportler aus Usbekistan, einer aus Kirgisistan und einer aus Tadschikistan gemeldet. Für Tadschikistan stürzt sich Andrej Drygin den Hang hinunter,  dies in den Alpindisziplinen. In der Königsdisziplin, dem Abfahrtslauf, fuhr er mit zehn Sekunden Rückstand auf den Sieger ein. Im Profisport sind das riesige Dimensionen.

Wintersportnation Kasachstan

Für Kirgisistan wagt sich Iwan Borissow zum Slalom und Riesenslalom ins Starthäuschen. Aus Usbekistan haben ein Slalomspezialist und drei Eiskunstläufer gemeldet. Die kleinen Teams Zentralasiens haben Exotencharakter. Ganz anders Kasachstan, denn die Turin-Starter unter kasachischer Flagge bilden eine vielköpfige Mannschaft, die in fast allen Disziplinen und Ergebnislisten vertreten ist. Mit 56 Startern, darunter das 23-köpfige Männer-Eishockeyteam, ist man bei Alpin- und Trickski, Langlauf, Biathlon, Skisprung, Eishockey und beim Eisschnelllauf am Start. Allein 17 Skilangläufer und vier Kufenflitzer sind in Italien am Start. In den Loipen Turins verpasste ein Kasache schon mal knapp die Medaillenränge, platziert sich unter den Top-Ten, und der erste Läufer aus dem wintersportverwöhnten Skandinavien folgt hinterher.

Seit die Zentralasiaten auf eigene Rechnung starten, haben sie Edelmetall errungen. Bei den letzten vier Winterolympiaden gewann Kasachstan fünf Medaillen. Der Statistik nach sollte es also in Turin für einen Sprung aufs Treppchen reichen. Unvergessen ist Kasachstans Langlauflegende Wladimir Smirnow. Der in Nordkasachstan geborene Smirnow stand bei Olympia siebenmal auf dem Treppchen – dreimal noch für die UdSSR. Für das junge Kasachstan holte er 1994 und 1998 Gold, Bronze und zweimal Silber. Für die bis dato fünfte kasachische Wintermedaille sorgte 1998 Ludmilla Prokaschewa im Eisschnelllauf. Ebenfalls 1998 holte Lina Scherasowa die bisher einzige Wintersportmedaille Usbekistans. Im Trick-Ski deklassierte sie die Konkurrenz und holte Gold. Mangels Teilnehmern kann Turkmenistan bisher kein Edelmetall sein Eigen nennen. Tadschikistan und Kirgisistan haben auch noch keine Wintersportmedaille errungen. Die Siegerhistorie und ein Blick in die Gesichter der aktuellen Teams zeigt: Wintersport im Hochleistungsbereich ist in Zentralasien eine Russendomäne. Ethnische Russen prägen die Mannschaften. Auch die Startplätze im Team des multiethnischen Kasachstans werden vornehmlich von ethnischen Russen besetzt. Das Alter der Starter zeigt: Olympia gehört nicht nur der Jugend. Seit langem der Pubertät entwachsen sind die Rodelexoten Anne Abernathy und Werner Hoeger, die sich für die Jungferninseln respektive Venezuela in die Rodelbahn stürzen. Beide sind schon 52 Jahre alt. Auch manch ein Olympionike Kasachstans ist schon in den besten Jahren. Die Kufenrecken Konstantin Schafranow und Alexander Koreschkow aus Ust-Kamenogorsk haben schon 38 Jahre auf dem Eishockeybuckel. Es gibt auch Küken im Team Kasachstans. Die Trickskifahrerin Julia Rodinowa wird erst im März 16, ihr Disziplinkompagnon Dmitri Reichert zählt 17 Lenze. Man setzt auf Nachwuchs, man hat noch viel vor in Kasachstan.

Rekordjagd über Alma-Ata

Nicht von ungefähr ist Kasachstan die Wintersportnation Zentralasiens. Wintersport und vor allem Eislauf haben Tradition. So wie Deutschland noch heute vom Wintersport unter Hammer und Zirkel profitiert, so Kasachstan von einer funktionierenden Sportförderung unter Hammer und Sichel. Jedem Sportenthusiasten der UdSSR und manchem Eisläufer im Westen war der Medeo-Sportkomplex Alma-Atas ein Begriff. Mit Hilfe von Komsomol-Brigaden entstand 1972 über Alma-Ata eine gigantische Höheneisbahn, 1.700 Metern über dem Meer. Mit einer riesigen Eisfläche und Platz für 10.000 Zuschauer gehört sie noch heute zu den größten Eisstadien weltweit. Der sowjetische Nationalkader drehte hier seine Runden, internationale Meister wurden gekürt und Rekorde gelaufen. Beim Dachverband Ice Skating Union (ISU) in Lausanne sind weit über 100 in Alma-Ata/Medeo gelaufene Welt- und Europarekorde registriert. Vier Bestzeiten liefen Norweger, eine ein Schwede, 25 stellen Sportler aus der DDR auf. Für den Rest sorgten Sportler mit Sowjetstern. Tausende Athleten der Sowjetunion trainierten auf der laut Partei „besten Eisbahn der Welt”. Die Bedingungen im windgeschützten Tal am Malaja Almatinka-Fluss, der kristallklares Wasser für die Eisfläche liefert, sind ideal für Training und Wettkampf. Heute sind all die einstigen Rekorde Sportgeschichte, keiner von ihnen hat mehr Bestand. Rekordzeiten werden heute auf den Eisovalen im norwegischen Hamar, in Calgary oder Salt Lake City gelaufen. Alle drei Eisbahnen stehen in Olympiaaustragungsorten. Nur die Natur rund um das heute kasachisch richtig genannte Medeu ist so schön wie einst. Im unabhängigen Kasachstan wurde das Eis im legendären Stadion allerdings brüchig, die Sportlerscharen der ehemaligen Sowjetunion kamen nicht mehr zum Training, und nach 25 Jahren schien das Eisstadion am Ende. Dank der Firma Chevron Munaigas ging es ab 1997 bergauf. Die Firma spendete 500.000 US-Dollar für Medeus Eisoval.

Medeus Eis ist wieder olympiareif

Seitdem es den Staatsfinanzen so gut geht wie den Bilanzen von Chevron Munaigas, investierte die Regierung nochmals vier Millionen Dollar in das Eisstadion. Als sich die Unabhängigkeit Kasachstans zum elften Male jährte, war Medeu wieder renoviert. Heute werden Weltcups oder nationale Wettkämpfe veranstaltet, und die Almatyer können dort ebenso Schlittschuhe schnüren. Auch Kasachstans Präsident und andere Staatslenker der GUS sollen in Medeu Pirouetten gedreht haben. Nur Wladimir Putin wollte lieber im einen Steinwurf entfernten Schimbulak Ski fahren. Es gibt Wintersportanlagen um Almaty, und deswegen soll Olympia nach Kasachstan kommen. Den Eisring in Medeu und die Mauern an der Serpentinenstraße zum Skiort Schimbulak zieren schon hoffnungsvolle Olympiaembleme. Gerne sprechen Kasachen von Schimbulak als dem besten Skiressort Zentralasiens. Skiführer, ob in Buchform oder im Internet, bestätigen das Urteil der Einheimischen. Noch sind die Würfel aber nicht gefallen, denn die Kandidaten für die Winterspiele 2014 müssen sich diesen Sommer einer Vorentscheidung stellen. Almatys Konkurrenten sind: Bordschomi (Georgien), Jaca (Spanien), Pyeongchang (Südkorea), Salzburg, Sotschi und Sofia – die Mozartstadt wird als aussichtsreichster Kandidat gehandelt.

Damit die olympische Flamme in acht Jahren über Almaty brennt, Kasachstan Milliarden von Fernsehzuschauern ein Begriff wird und in Medeu wieder Rekorde wie in Hamar, Calgary oder Salt Lake City gelaufen werden, ist noch viel zu tun. Die Wintersportnation Kasachstan ist noch eine Unbekannte. Die zahlreichen Olympiastarter in Turin, die bisher eine gute Figur machen – obgleich bis zu Redaktionsschluss noch keine Medaille um den Hals eines Kasachen hing – sind ein Schritt, dies zu ändern.

Bedenklicher ist, dass die kasachische Olympiabewerbung im Internet nur mit einer Homepage, die einzig allein das herrliche Tienschan-Bergpanorama um Almaty präsentiert, zu finden ist. „Weitere Informationen folgen …” steht geschrieben. Die anderen Bewerberstädte präsentieren sich mit anspruchsvoll gestalteten, mehrsprachigen digitalen Plattformen. Bald kann es für Almaty schon fünf nach Zwölf sein. Im Juli wird entschieden, welche Kandidaturen überhaupt Eingang in die offizielle Endrunde finden.

Von Gunter Deuber

17/02/06

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