Der Kasachstandeutsche Viktor P. hilft internationalen Diplomaten und bekannten Firmen beim Umzug von und nach Kasachstan. Sein Lebensweg liest sich wie ein spannendes Geschichtsbuch: Seine Großväter kämpften auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs auf unterschiedlichen Seiten und seine Eltern wuchsen in verschiedenen Konfessionen auf. 60 Jahre lebt er bereits in Kasachstan und plant aus Liebe zu Almaty trotz deutschem Pass nicht, nach Deutschland auszusiedeln.

Die erste meiner Begegnungen mit Viktor fand während eines Verwaltungsempfangs des deutschen Konsulats in Almaty statt. Als frisch nach Kasachstan gezogener Deutscher faszinierten mich seine Familiengeschichte und seine positive Sicht auf meine neue Heimat Almaty. Viktor ist 70 Jahre alt und leitet sein eigenes Umzugsunternehmen. Er ist freundlich, direkt und hat die deutsche Sprache trotz seines Lebens in der Sowjetunion und Kasachstan nie verloren. Im Gespräch lacht er ab und an und seine Augen blitzen auf. In seinem Büro im Norden Almatys erzählt er, wie er in diese Stadt gekommen ist und was ihn hier hält.

Großväter in Wehrmacht und Roter Armee

Viktors Großeltern mütterlicherseits waren Schwarzmeerdeutsche, deren Vorfahren auf Einladung Katharinas der Großen zwischen 1793 und 1803 unweit von Cherson siedelten. Während Wolgadeutsche zu großen Teilen der katholischen Konfession angehören, waren besonders die aus Norddeutschland stammenden Schwarzmeerdeutschen meist Mennoniten. Viktors Vorfahren sprachen Plautdietsch und wurden auch als Hollanddeutsche oder „Itschiki mit Schale“ bezeichnet, da sie Kartoffeln traditionell mit Schale zubereiteten. Sowohl der mennonitische Glaube als auch die Sprache haben ihren Ursprung in den Niederlanden. Ein paar plautdietsche Redewendungen sind Viktor nach wie vor geläufig, obwohl seine Alltagssprache heute Russisch ist. Plautdietsch ist dabei nicht mit dem bekannteren Plattdüütsch zu verwechseln.

Als das Dritte Reich am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und daraufhin Teile der heutigen Ukraine einnahm, schloss sich der deutsche Großvater mütterlicherseits der Wehrmacht an, während der russische Großvater väterlicherseits auf Seiten der Roten Armee kämpfte. Der Wehrmachtssoldat verlor im Kampf einen Finger, kam in russische Kriegsgefangenschaft und wurde mit einem Zug für Viehtransporte in ein Gulag im sibirischen Krasnojarsk überführt, wo er im Kohleschacht schuften musste.

Dieser Großvater ist auf einem alten Familienfoto aus dem Dorf Alexandrowka nahe Cherson oben in der Mitte zu sehen.

Eltern aus verschiedenen Kulturen

Viktors Eltern lernten sich in Torf kennen, einem winzigen Dorf in der Oblast Kirow. Der Vater war orthodoxer Russe, die Mutter mennonitische Deutsche. Das Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Konfessionen empfand Viktor als friedlich und problemlos. Die Liebe seiner Eltern galt ihm als Beispiel dafür.

Sein deutscher Opa wurde 1953 aus dem Gulag entlassen und kehrte traumatisiert und enttäuscht zurück. Seine Erwartungen, er würde Unterstützung und Kompensation nach den Strapazen der Kriegsgefangenschaft bekommen, erfüllten sich nicht. Die Liebe zwischen Viktors Eltern lehnte er strikt ab. Erst viel später sollte er die Ehe seiner Tochter akzeptieren. Wenn Viktor von seinen Eltern erzählt, schwingt eine gewisse Trauer in seiner Stimme mit. Er bereut, manche Fragen nicht gestellt zu haben, z. B. wie sie sich damals kennen lernten.

Umsiedlung nach Kasachstan

Als Viktor anderthalb Jahre alt war, siedelte die Familie von Torf nach Nordkasachstan um, in die Nähe der Stadt Aqtöbe. Sie lebten ein einfaches Leben auf dem Land in einem kleinen Häuschen aus Lehm und Stroh. Viktor besuchte die Schule im fünf Kilometer entfernten Martuk, unweit der kasachisch-russischen Grenze. Der Vater arbeitete als Fahrer, die Mutter im Ziegelwerk und der Großvater als Brotzusteller. Auf seiner Kutsche stand immer eine Kiste mit Möhren für die Pferde – und auch für Viktor. Seine Erzählungen erschaffen ein idyllisches Bild des Landarbeiter-Lebens. Viktor lächelt noch heute mit einer tiefen Gemütlichkeit, wenn er an seine Kindheit im kalten Norden Kasachstans zurückdenkt.

Die Deutschen in der Sowjetunion wussten wenig über die Lebensrealität in der BRD. Die sowjetische Propaganda stellte das Leben dort negativ dar. Die mennonitischen Traditionen wurden weitgehend beibehalten: es wurde sonntags nicht gearbeitet, und Weihnachten und Ostern wurden früher gefeiert als bei den Orthodoxen. So wunderten sich die Nachbarn oft, wenn sie die Kinder schon eine Woche vorher mit bunten Eiern durch die Straßen laufen sahen. Auch Kaffee behielt einen hohen Stellenwert im sonst so Tee-liebenden Sowjetraum. Da meist kein echter Kaffee erhältlich war, verwendeten die Russlanddeutschen meist gebranntes Getreide. Auf Plautdietsch hieß dieses Getränk „Prips“.

Mennoniten werden oft mit Amischen verglichen, da sich ihr Lebensstil ähnelt. Sie lehnen moderne Technik sowie den Militärdienst ab. Heute leben die meisten streng traditionellen Gemeinschaften der Mennoniten in Lateinamerika. Viktor ist zwar in diesem Glauben aufgewachsen, verwendet jedoch heute auch Autos und Smartphones und arbeitet manchmal sogar sonntags.

Umzug nach Alma-Ata

Als Viktor zehn Jahre alt war, zog die Familie nach Alma-Ata um. Viktor sagt heute, dass es dort wie im Himmel, wie im Paradies für ihn war. Besonders die Verfügbarkeit von Obst, speziell Äpfeln, und das wärmere Klima begeisterten ihn. Durch die neuen Freuden im Alltag des jungen Mannes sind viele positive Erinnerungen mit dem heutigen Almaty verbunden.

Viktor beendete die Schule, musste trotz seines Glaubens im Militär dienen und war danach eine kurze Zeit in Taldykorgan als Lehrer tätig – bis er eine Tschetschenin kennen lernte, deren Familie strikt gegen diese Verbindung war. Dass die Familie der Geliebten ihn nicht akzeptierte, war für ihn herzzerreißend, und er beschloss, sie zu „stehlen“. Sie flohen für drei Jahre nach Kemerowo im weit entfernten Sibirien, wo ihre Söhne geboren wurden.

Nach der Rückkehr akzeptierte zwar die Familie seiner Frau die Verbindung, allerdings war die Ehe unglücklich und sie ließen sich scheiden. Die Söhne blieben bei Viktor.
Doch aus den Trümmern dieser Beziehung erwuchs eine neue Liebe. In zweiter Ehe heiratete Viktor eine Kasachin, deren Vorfahren litauische Juden, Russen und Kasachen waren und deren Familie wesentlich aufgeschlossener reagierte. Diese Ehe hält bis heute.

Liebe zu Almaty

Viktor sagt, in der Sowjetunion seien Kiew und Almaty die schönsten Städte gewesen. Besonders die Mischung aus alter und neuer Architektur schätzt er. Die Stadt sei nicht perfekt, habe sich aber über die Zeit positiv entwickelt. Die Straßen seien größer und sicherer geworden. „Die Stadt hat sehr viel Charme“, schwärmt er. Ja, er hält sie sogar für „die beste Stadt der ganzen Welt“.

Die negativen Seiten blendet er dabei nicht aus: die Luftqualität und die Korruption seien die größten Probleme. Besonders das Thema Korruption macht ihn wütend. In den meisten postsowjetischen und postkommunistischen Ländern gebe es diese Mentalität, insbesondere bei der Polizei und den Behörden. Dieses kriminelle Handeln zerstöre das Land und die Zukunft der Kinder. In seinem Alter habe er die Scheu abgelegt und sage den Polizisten direkt, wenn ihm das Verhalten missfalle. Als er das erzählt, legen sich Falten auf seine Stirn über den wachen Augen, denn als kasachischer Patriot hasst er Korruption geradezu. Er wünscht sich, dass das Land irgendwann frei davon sein wird. Dabei sieht er schon deutliche Verbesserungen im Vergleich zu den 1990er-Jahren.

Leben nach dem Fall der Sowjetunion

Seit 1992 ist Viktor in der Umzugs- und Speditionsbranche tätig. Die ersten siebzehn Jahre arbeitete er für deutsche, international aktive Speditionen. Er bereiste Deutschland und Europa. Auf die Frage, warum er nicht am deutschen Spätaussiedlerprogramm teilgenommen habe, hat Viktor gleich zwei Antworten. Einerseits seien sie hier immer glücklich gewesen. Und andererseits sei für Frau und Kinder die BRD ein fremdes Land und eine Umgewöhnung schwierig. Dennoch überlegt sein jüngster Sohn momentan, nach Deutschland umzuziehen. Während Viktor die deutsche Staatsangehörigkeit hat und hier mit einer Residenzerlaubnis wohnt, müssten seine Kinder sich allerdings zunächst mit der deutschen Bürokratie beschäftigen.

Seine Verwandten haben damals ein „Heimkehrergeld“ von 8.000 bis 15.000 Deutsche Mark erhalten, erzählt er. Ein großer Teil der Russlanddeutschen Kasachstans kehrte im Zuge des Programms nach Deutschland zurück.

Viktor ist zufrieden mit seinem Leben. Sein Umzugsunternehmen ist bei Diplomaten und großen internationalen Firmen gefragt. Trotz seiner 70 Jahre arbeitet er noch immer, fühlt sich aber langsam müde und würde gerne in Rente gehen. Sein Sohn Viktor soll das Geschäft übernehmen.

Lukas Grebenstein

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