Ein Rechtsstaatssystem besteht nicht aus Gesetzen für alle Lebenslagen. Die Grundrechte müssen auch gesichert und einklagbar sein. Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung sprach Dr. Gerd Wehling Ende Februar an der Al-Farabi Universität über den Aufbau einer Rechtsordnung und ließ die Studenten an seinen Erfahrungen als Richter, Professor und Rechtsberater teilhaben.

/Bild: Christine Karmann. ‚Dr. Gerd Wehling: „Das deutsche Rechtssystem sichert den Bürgern ein ruhiges, sicheres Leben“/

In Deutschland hat das Verwaltungsrecht eine lange Tradition. Bereits der Preußenkönig Friedrich der Große erkannte, dass königliche Willkür nicht zum Aufbau eines effektiven Staatswesens beiträgt. Er leitete im Jahr 1794 mit dem Allgemeinen Landrecht eine umfassende Justiz- und Gesetzreform ein. Insbesondere sollte die Macht der Juristen durch einen möglichst genauen Gesetzeswortlaut begrenzt werden.

„Verwaltungsrecht ist ein politisches Recht, dass die öffentlichen Gewalten regelt. Die Gerichtsbarkeit hat unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidungen des Staates. Nach dem einem Urteil über die zu niedrigen Hartz-IV-Sätze für Familien in Deutschland wurden nur einen Tag später die Beitragssätze erhöht“, sagte Dr. Gerd Wehling.

Der deutsche Verwaltungsrechtsexperte blickt auf eine abwechslungsreiche Karriere im Staatsdienst zurück. Nach Jura-, Geschichts- und Politikstudium ging Dr. Gerd Wehling als Referendar nach Israel. Zurück in Deutschland, arbeitete er als Staatsanwalt und Rechtsberater der SPD Bundestagsfraktion unter Helmut Schmidt und Willy Brandt.

Umfassende praktische und theoretische Erfahrung sammelte er als Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Hamburg und Lehrbeauftragter an der Hochschule der Polizei Hamburg. Auch in Kasachstan ist er nicht das erste Mal.

„Man darf die Dinge nicht zu hart beurteilen“

Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung hat er verschiedene Vorträge gehalten und die Jugendstrafrechtsreform in Kasachstan nach deutschem Modell mitentwickelt. „In Deutschland stehen Pädagogik und Prävention an erster Stelle, im US-amerikanischen Recht sind Rache und Sühne entscheidende Bestandteile der Strafe“, sagte Dr. Gerd Wehling.
Neben einer exzellenten Ausbildung und der Bereitschaft, sich in immer neue Themengebiete einzuarbeiten, macht für Dr. Gerd Wehling die Bereitschaft, Mensch zu sein und Lebenskonflikte nicht mit Gewalt lösen zu wollen, einen guten Richter aus. „Man darf die Dinge nicht zu hart beurteilen und ein Verständnis für die Resozialisierung der Menschen entwickeln“, sagte Dr. Gerd Wehling. Nicht zuletzt aus Kostengründen ist es ein Ziel des staatlichen Strafens, den Täter wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ein Tag in Haft kostet 400 Euro in Deutschland.

Die spektakulärsten Fälle von Richter Dr. Gerd Wehling waren Umweltverfahren. „In Hamburg wollten die Konzerne ihren Dreck ablegen und mussten Milliarden Euro Schadensersatz zahlen.“ Auch der Deutschen Umwelthilfe, die einen Zugang zu Umweltdaten verlangte, gab Dr. Gerd Wehling Recht. „Nach dem deutschen Informationsfreiheitsgesetz hat jede Person einen voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von Bundesbehörden, vorausgesetzt dass andere Rechte wie Persönlichkeitsrechte, Patentrechte oder Eigentumsrechte nicht verletzt werden.“

Blick nach Westen und Osten

Vor Jurastudenten und Studenten der Internationalen Beziehungen sprach Dr. Gerd Wehling in der Al-Farabi Universität über den Aufbau einer Rechtsordnung. „Es reicht nicht, Gesetze für alle Lebenslagen zu machen, die Gesetze müssen auch anwendbar sein. Wenn der Staat sich nicht genügend durchsetzt, wird sich die Lebenswirklichkeit nicht verändern.”

In Deutschland ist jede öffentliche Gewalt an die Verfassung gebunden. Daneben gilt noch das rechtsstaatliche Superelement, die Rechtsweggarantie. Jeder Akt des Staates muss gerichtlich überprüfbar sein. Außerdem darf der Staat nur handeln, wenn ihn das Gesetz zum Handeln berechtigt. Im Verwaltungsrecht unterscheidet man die Leistungsverwaltung und die Eingriffsverwaltung.

Leistungsverwaltung bedeutet, dass jeder Bürger die zugesicherten Leistungen vom Staat einfordern kann. Jeder deutscher Studierender hat einen Rechtsanspruch auf das Studium, das die Universität nicht verweigern darf. Die Eingriffsverwaltung kann anhand einer Demonstration erklärt werden. Die Entscheidung auf Zulassung zu einer Demonstration fällt unabhängig von der Exekutive, d.h. nicht die Polizei trifft die Entscheidung, sondern Verwaltungsgerichte.

„Das System ist in sich rund. Die Verwaltung erfasst den gesamten Staat. Das Recht ist die Krone. Es bindet alle Staatsgewalten und sichert ein ruhiges, sicheres Leben“, sagte Dr. Gerd Wehling. Der deutsche Rechtsexperte sprach nicht nur über deutsche Erfahrungen, sondern wagte auch den Blick nach Osten.

„Viele ehemalige Sowjetrepubliken haben westliche Gesetzeswerke übernommen. Wenn man gleichzeitig auch eine unabhängige Justiz schafft, wie das die Erfahrungen der Baltischen Länder zeigen, kann das gelingen. Fehlt die Durchsetzbarkeit der Gesetze, so wie in Russland, sieht die Wirklichkeit anders aus.“

Nach dem Vortrag stellten die Studenten Fragen, z.B. wie man unabhängige Richter schaffen kann. Dr. Gerd Wehling verwies auf die deutschen Erfahrungen mit den Richterwahlausschüssen. „In dem Wahlgremium aus Parteienvertretern, Rechtsanwälten und Richtern hat jeder nur eine Stimme, auch der Justizminister. Der Rechtshandel und die Absprachen, Richter einer bestimmten Parteizugehörigkeit zu wählen, kann durch einen Proporz ausgeglichen werden. Eine deutsche Justizministerin wollte sich einmal zur Richterin wählen lassen und ist an dem Richterwahlausschuss gescheitert. Sie sei zu politisch, so das Urteil des Wahlgremiums. Das Beispiel zeigt die Sicherheitsvorkehrungen funktionieren.“
Das deutsche System enthält demokratische Elemente, ist aber im Vergleich mit anderen Systemen ein Mischzustand. „In den USA werden die Richter direkt vom Volk gewählt und gehen auf Wahlkampftour. Die Erfahrung zeigt, dass sich das Volk stark von Emotionen leiten lässt, deswegen spielt auch die Todesstrafe immer eine große Rolle bei der Wahl“, sagte Dr. Gerd Wehling.

Eine weitere Studentin fragte nach der Korrumpierbarkeit deutscher Richter. Dr. Gerd Wehling konnte sich an keinen Fall erinnern. „Richter werden schwerer bestraft als normale Bürger. Es gab einen Fall, in dem ein Richter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er einen Immobilienmakler erpresst hatte. Der Schaden betrug 5.000 Euro. Ein Normalbürger wäre mit einer Geldstrafe davongekommen. Das schreckt ab. Korruptionsfälle gibt es vor allem bei unteren Beamten, die sich ein Zubrot verdienen wollen. Beliebte Bereiche sind die Bauverwaltung und das Ausländerrecht“, so Dr. Gerd Wehling.

Wie definiert ein deutscher Richter Gerechtigkeit? „Gerecht ist eine Entscheidung dann, wenn unter Berücksichtigung aller Belange die beste aller Entscheidungen getroffen wird“, sagte Dr. Gerd Wehling. „Ein Teil der Gerechtigkeit ist das Abwägen. Das kann im Einzelfall schon mal ungerecht sein. Stichtagregelungen sind beispielsweise eingebaute Ungerechtigkeiten im deutschen Rechtssystem. Das muss aber im Interesse der Gemeinschaft so sein.“

Von Christine Karmann

26/02/10

Teilen mit: