Südlich von Omsk befindet sich eine WG der besonderen Art: Vier Senioren haben hier mit Spenden ein Gemeinschaftshaus errichtet. Mit einem Teil ihrer Rente füllen sie die Gemeinschaftskasse und versorgen sich selbst. Bisher leben nur vier Leute im Haus, aber das Wohnkonzept könnte in Russland Schule machen.
In der gemütlichen Wohnküche riecht es nach Kaffee. Zwei ältere Damen mit Kopftuch stellen Tassen auf den Tisch. Blickt man aus dem Küchenfenster, sieht man nichts als Schnee. Kein Wunder, denn der Ort Serebropolje (deutsch: Silberfeld) liegt in der sibirischen Waldsteppe, 80 Kilometer südlich von Omsk. In diesem eher unscheinbaren Dorf im Deutschen Nationalrajon Asowo leben nur einige hundert Einwohner. Seit 2012 gehören auch die beiden Damen der Seniorenwohngemeinschaft dazu – der ersten katholischen Wohngemeinschaft für ältere Menschen in Russland.
Hier wohnt Ella Stepanowna Steblau. Sie ist, wie die meisten ihrer Mitbewohner, Russlanddeutsche.
Die kleine Frau mit dem grauen Haar unter einem unscheinbaren Tuch sitzt am Tisch des Gemeinschaftszimmers und erzählt ihre Geschichte. Ihre Vorfahren gehörten zu den deutschen Bauern, die von Katharina der Großen ab 1763 nach Russland geholt worden waren, um dort noch nicht erschlossene Landstriche zu bewirtschaften. Viele Familien siedelten sich im Schwarzmeergebiet und an der Wolga an. „Auch meine Mutter war Wolgadeutsche“, erzählt Ella Stepanowna in fließendem Deutsch. „1920 musste sie als kleines Mädchen mit der Familie vor der Hungersnot fliehen.“ Die Leute hätten gehört, dass in Sibirien Land zu haben sei. Also siedelten sie dorthin um, sie bauten Häuser und richteten sich ein. Ella Stepanowna kam 1942 zur Welt. Ihre Eltern waren katholisch, lebten den Glauben aber nicht. Trotzdem erinnert sich die 74-Jährige noch gut an die Verfolgung der Kirche in der Sowjetunion, die Zeit hat sie geprägt. „Es war sehr gefährlich damals, man durfte die Kinder nicht taufen“, erinnert sich die alte Dame. Dann fügt sie leise hinzu „In unserer Familie ist bis heute niemand getauft.“ Diese Geschichte beschäftigt die alte Frau noch immer.
Es sind die Schicksale einer Generation, welche die Umbrüche der vergangenen 70 Jahre in Russland miterlebt hat und heute teilweise hilfsbedürftig ist, die 2010 Auslöser für die Gründung des Hauses „Simeon und Hanna“ waren. „Der Gedanke war: Es wäre doch schön, wenn es ein Haus gäbe, in dem Katholiken zusammen leben und beten könnten“, erklärt Regina Günther die Idee des Wohnprojekts. Die lebhafte Frau mit den kurzen Haaren leitet das Haus in Serebropolje und wohnt auch dort. Regina Günther ist eine gebürtige Deutsche und lebt seit fast 25 Jahren immer wieder in Russland. Neben der Senioren-Wohngemeinschaft engagierte sie sich für andere kirchliche Projekte. Ihr Herz aber hängt an diesem Wohnprojekt. Sie erzählt davon wie vom familiären Zusammenleben. Die gegenseitige Fürsorge oder Übernahme von Verantwortung füreinander spielt dabei eine große Rolle. „Ein wichtiger Aspekt ist, dass wir hier wie eine Familie zusammenleben“, sagt Regina Günther. „Wer keine Kinder hat, die sich im Alter um einen sorgen, soll nicht auf sich allein gestellt sein.“ Und darum sei das Haus auch kein normales Seniorenheim, sondern eine „Lebenswohngemeinschaft“. Dieses Konzept des Zusammenlebens kenne man in Deutschland, es wird dort immer populärer, in Russland aber sei das Konzept noch vollkommen neu. „Das gibt es bislang nur bei uns“, sagt die Leiterin des Hauses.
Aber wer kam nun auf die Idee, ein solches Wohnprojekt zu gründen? Zum ersten Mal kam die Idee bei einem Treffen betagter Katholiken in Nowosibirsk auf. Dort befindet sich eines von vier Bistümern der katholischen Kirche Russlands. Durch die Initiative des dortigen Bischofs Josef Werth, selbst Russlanddeutscher, begannen die Planungen. Man besprach sich einige Male. Und schließlich stellte Ella Stepanowna ihr eigenes Land in Serebropolje für das Projekt zur Verfügung. Auf dem 2800 Quadratmeter großen Grundstück hatte die katholische Gemeinde bereits 1990 eine Kirche aus Holz errichten lassen. 2011 kam dann das zweigeschossige Seniorenhaus dazu. Der Bau wurde durch Einzelspenden und deutsche Organisationen wie das Osteuropa-Hilfswerk der Katholischen Kirche, Renovabis, finanziert. Am 7. Juli 2012 schließlich wurde das Gebäude eingeweiht: ein geräumiges rötliches Holzhaus mit dunkel gedecktem Dach. Man entschied sich, das Haus nach den biblischen Propheten Simeon und Hanna zu benennen. Und der Wohnraum wuchs – nach und nach entstanden zuerst eine kleine Kapelle im Inneren, dann die große Küche, ein Büro, ein geräumiges Wohnzimmer und die privaten Zimmer für die Bewohner.
Insgesamt acht Leute können im Haus wohnen, inzwischen sind es vier. Anfragen kommen vor allem über das Katholische Bistum. Bei Tee und Kuchen erzählt Alina Iwanowna ihre Geschichte – auch sie wohnt im Gemeinschaftshaus. Sie wurde 1947 in Korkino in der Oblast Tscheljabinsk geboren. Ihre Mutter habe im Kohleschacht gearbeitet, ihren Vater habe sie nie kennengelernt, erzählt Alina Iwanowna. „Mutter kam aus einer katholischen Familie, aber die Glaubenspraxis hat sie uns Kindern nicht beigebracht“, sagt die 69-Jährige. „Wahrscheinlich aus Angst.“
Auch aus diesem Grund gefällt Alina Iwanowna das Konzept ihrer neuen Wohngemeinschaft – dort sei alles freiwillig, betont sie, niemand zwinge jemanden zu etwas. Trotz des gemeinschaftlichen Wohnens hat jeder der Bewohner sein eigenes Reich, seinen Privatraum: ein rund elf Quadratmeter großes Einzelzimmer, eingerichtet mit eigenen Möbeln, mit Dusche und Toilette. Während es draußen bitterkalt ist, ist es hier angenehm warm, gemütlich und hell. Die Versorgung des Hauses bewerkstelligen die Senioren hauptsächlich selbst. Jeder trägt etwas zum gemeinsamen Leben bei. Die Bewohner zahlen 65 Prozent ihrer Rente in die Haushaltskasse ein. Damit werden Lebensmittel gekauft und die Betriebskosten gedeckt. Der größte Posten seien die Heizkosten, sagt Regina Günther. Für eine Heizperiode werden etwa 6,3 Tonnen Heizöl benötigt. Die Kosten belaufen sich auf 247.500 Rubel, umgerechnet bis zu 3000 Euro im Jahr. Regina Günther hofft, dass sie bald auf Gas umstellen können, so würde es billiger und einfacher werden.
Auf dem großen Grundstück befindet sich auch ein Stall mit Hühnern, Ziegen und Kaninchen. Das Vieh diene dem Lebensunterhalt, erklärt die Leiterin. Im Sommer bauen die Bewohner im Garten Gemüse an, sie sammeln Beeren und Pilze. In dieser lose besiedelten Gegend Sibiriens mangelt es oft an Infrastruktur. Im Dorf aber gibt es einen kleinen Lebensmittelladen und einen Feldscher für die medizinische Versorgung. Die Einkäufe erledigen die Bewohner mit einem eigenen Auto. Ein Transportmittel ist im Dorf wichtig – wer im Dorf kein Auto habe, fahre mit dem Pferdeschlitten, fügt Anatolij Viktorowitsch hinzu. Anatolij Viktorowitsch wurde in Nowosibirsk geboren, vor kurzem erst zog er nach Serebropolje. Der Unterschied?
„Es ist sehr ruhig hier“, sagt er. „Wir haben gute, frische Luft. Viel davon und ganz umsonst.“ Anatolij Viktorowitsch ist als einziger der Bewohner kein Russlanddeutscher. Wie alle anderen aber ist er Katholik.
Das religiöse Leben ist ein wichtiger Teil des gemeinsamen Alltags. Jeden Sonntag finden Wortgottesdienste statt, und zweimal im Monat hält der römisch-katholische Pfarrer aus Omsk im Haus „Simeon und Hanna“ einen Gottesdienst. Auch Bischof Josef Werth aus Nowosibirsk besucht die Senioren regelmäßig. An den Feiertagen, zu Ostern und Weihnachten, werden die Dorfbewohner zu den Gottesdiensten im Seniorenhaus eingeladen, die Kinder aus dem Kulturzentrum führen dann Theaterstücke auf. Mittlerweile kommen sogar Gäste aus anderen Dörfern und wohnen für ein paar Tage gegen eine kleine Gebühr im Gästezimmer. Zum Jahrestag der Gründung öffnet die Wohngemeinschaft ihr Haus für alle. Das Haus möchte nach außen offen sein. Im Vorraum hängt darum auch eine Fotosammlung. „Hier sieht man ein bisschen von unserem Leben“, sagt Regina Günther stolz und deutet auf einige Fotos, auf denen auch Besucher zu sehen sind. Über weitere Mitbewohner würde sich die kleine Wohngemeinschaft freuen. „Wir hoffen, dass noch mehr Leute kommen“, sagt Regina Günther und Anatolij Viktorowitsch ergänzt: „Und dass sie lange bleiben.“ Und wer weiß, vielleicht wird das neue Wohnkonzept bald auch andernorts in Russland Nachahmer finden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung.