Die Kollektivierung und die damit verbundene Hungersnot in Kasachstan ist noch heute präsent. Robert Kindler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, widmet dem Thema seine Doktorarbeit, die auch als Buch unter dem Titel „Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan“ erschienen ist. Als Gastautor teilt er sein tiefgreifendes Wissen über Ursachen und Folgen der Kollektivierungskampagne anhand des Kreises Batbakkarinsk in Kasachstan.
Anfang der 1930er Jahre brach über die Bevölkerung Kasachstans das Unheil herein. Zwangskollektivierung, Kampagnen gegen „Kulaken“ und „Bais“, massenhafte Enteignungen sowie die Sesshaftmachung der nomadischen Bevölkerung lösten eine verheerende Hungersnot aus, der mehr als 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Diese Katastrophe war Teil jener gesamtsowjetischen Hungersnot der Jahre 1932-1933, die neben Kasachstan insbesondere die Ukraine, den Nordkaukasus und das Wolgagebiet traf. Insgesamt kamen in diesen Jahren fünf bis sieben Millionen Menschen ums Leben.
Folgen einer halsbrecherischen Politik
Die Verantwortung für diese präzedenzlose Tragödie trugen zweifellos der sowjetische Diktator Joseph Stalin und seine engste Umgebung. Sie waren es, die die rücksichtslose Kollektivierung der Landwirtschaft und die Beschlagnahmung von Getreide und Vieh vorantrieben und auch dann nicht von ihren Forderungen abließen, als die Folgen dieser halsbrecherischen Politik absehbar waren. Sie nahmen die Verelendung und den Hungertod der Bevölkerung in Kauf, weil sie darin einen akzeptablen Preis für die Durchsetzung ihrer Ziele sahen: Die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft, die Vernichtung der „Kulaken als Klasse“ sowie die Finanzierung ihres ehrgeizigen Industrialisierungsprogramms, das den rückständigen sowjetischen Staat in die Moderne katapultieren sollte. Für die Landbevölkerung waren die Folgen dieser zynischen Politik gravierend, und sie veränderten die Strukturen der sowjetischen Landwirtschaft für immer.
Wie konnte es soweit kommen?
Wie aber entwickelte sich aus der Kollektivierungskampagne die verheerende Hungersnot? Und: Welche Folgen hatte sie für die Bevölkerung? Am Beispiel des Kreises Batbakkarinsk, dem heutigen Kreis Amangel’dinsk im Südosten der Oblast’ Kustanai, will ich exemplarisch zeigen, wie die kasachischen Halbnomaden ins Verderben gestürzt wurden. Die Vorgänge in Batbakkarinsk waren furchtbar, aber sie waren keineswegs außergewöhnlich. Ähnliches ereignete sich in allen Teilen Kasachstans.
„Der sowjetische Staat und seine Institutionen waren den Nomaden fremd.“
Nach dem Ende des Bürgerkriegs spielte die Sowjetmacht im Leben dieses abgelegenen Kreises keine besondere Rolle. Auf einer Fläche von rund 22.000 Quadratkilometern lebte die rein kasachische Bevölkerung fast ausschließlich von den Erträgen ihrer Viehzucht. Die meisten Kasachen waren Halb– oder Vollnomaden.
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Wenn sie mit Vertretern des Staates in Verbindung kamen, so waren dies allenfalls punktuelle Kontakte, bei denen es um die Einziehung von Abgaben und Steuern ging. Dass die Bolschewiki den Kommunismus errichten wollten, davon hatten die meisten Bewohner des Kreises Batbakkarinsk niemals gehört und wenn, so hatten sie keine Vorstellung, was sich hinter diesem abstrakten Begriff verbergen mochte. Der sowjetische Staat und seine Institutionen waren den Nomaden fremd.
Stalinsche „Revolution von oben“
Mit der stalinschen „Revolution von oben“ Ende der 1920er Jahre änderte sich die Situation grundlegend. Überall im Lande begannen nun Kampagnen gegen „reiche“ Bauern und Nomaden, die so genannten „Kulaken“ und „Bais“. Beides waren in erster Linie politische Kampfbegriffe, mit denen tatsächliche und vermeintliche Gegner der sowjetischen Ordnung stigmatisiert werden sollten. Vieh und Getreide wurden beschlagnahmt und „Kulaken“ aus ihren Heimatregionen verwiesen oder in die Lager des GULag gesperrt. Doch diese Attacken des Staates auf die Landbevölkerung riefen auch Widerstand hervor. So war es auch in Batbakkarinsk.
Widerstand der Nomaden
Als hier Anfang November 1929 eine Reihe bekannter und wohlhabender Nomaden verhaftet und ihr gesamtes Vieh konfisziert wurde, taten sich einige hundert Männer zusammen, überfielen das Kreiszentrum und verhafteten lokale Vertreter des sowjetischen Partei– und Staatsapparates. Einige Kommunisten schlossen sich den Aufständischen an, die große Pläne hatten, aber nur über wenige und veraltete Waffen verfügten. Deshalb fiel es den gut ausgerüsteten sowjetischen Truppen leicht, den Widerstand zu brechen. Aus der Perspektive der sowjetischen Behörden handelte es sich bei den Aufständischen um „Konterrevolutionäre“, die den Herrschaftsanspruch der Sowjetmacht in Frage stellten und zugleich die Besitzverhältnisse vor der Kollektivierung wiederherstellen wollten. Die Reaktion des Staates auf den Aufstand war drakonisch. Mehr als 100 Männer wurden zum Tode verurteilt und weitere 170 erhielten Haftstrafen. Ein Zeitzeuge erinnerte sich Jahrzehnte später, dass viele Beteiligte ohne jeden Prozess in der Steppe erschossen und verscharrt wurden.
Der „Aufstand von Batbakkarinsk“ reiht sich ein in eine Vielzahl ähnlicher Episoden in den Jahren 1929-1931, als sich überall in Kasachstan und der gesamten Sowjetunion Bauern und Nomaden verzweifelt gegen den drohenden Verlust ihrer Lebensgrundlagen zur Wehr setzten. Für sich genommen, stellten die meisten dieser lokalen Erhebungen kein Problem für den sowjetischen Staat dar, doch insgesamt bedeutete der massenhafte Widerstand der Landbevölkerung eine ernste Herausforderung. Stalin reagierte darauf im März 1930 in der Parteizeitung „Prawda“ mit seinem berühmten Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“, in dem er den radikalsten Exzessen der Kollektivierungskampagne zeitweise einen Riegel vorschob. Doch lange hielt diese Atempause nicht an. Schon bald ging die Jagd nach Getreide und Fleisch sowie auf „Feinde“ der Kolchosordnung unvermindert weiter.
„Blutiges Quartal in Batbakkar“
Auch in Batbakkarinsk, so hieß es in einem Bericht, waren die Kolchosen unter Zwang entstanden: „Nicht ein Kolchos im Kreis ist freiwillig organisiert worden, nicht ein einziger Viehhalter hat seine Tiere vergesellschaftet und nicht ein einziger kasachischer Viehhirte ist freiwillig in den Kolchos eingetreten.“ Zugleich versuchten die Behörden den Ablieferungsplan für Vieh zu erfüllen. Weil sich aber Ende 1931 abzeichnete, dass dieses Ziel nicht erreicht werden konnte, griff die Kreisführung zu radikalen Maßnahmen. Viele Kasachen wurden nun willkürlich zu den „Ausbeutern“ gezählt, ihnen wurden alle Tiere genommen, und man schloss sie aus den Kolchosen aus. Unter den Bedingungen der Ökonomie der Steppe war dies gleichbedeutend mit dem vollständigen Ruin. Im Volksmund wurden die Monate dieses erbarmungslosen Vorgehens als „blutiges Quartal in Batbakkar“ bezeichnet.
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Zugleich versuchten viele Kasachen ihre Tiere vor dem Zugriff der Kommunisten in Sicherheit zu bringen oder, wenn das nicht möglich war, zu verkaufen oder zu schlachten. Die Schlachtungen nahmen derartige Ausmaße an, dass die Kreisführung grundsätzlich verbot, Tiere zu töten und damit begann, sämtliche Fleischprodukte zu beschlagnahmen. Immer mehr Familien versuchten, der drohenden Katastrophe zu entfliehen. Seit Beginn des Jahres 1932 nahm die Fluchtbewegung in andere Regionen Kasachstans oder in andere Unionsrepubliken immer mehr zu.
Massenhafter Hunger
Schon zuvor hatte schwerer Mangel geherrscht, aber 1932 begann im Kreis Batbakkarinsk der massenhafte Hunger. Die Vorräte gingen zur Neige und die Menschen verzehrten, was immer sie finden konnten. Im November 1932 hieß es in einem Bericht der sowjetischen Geheimpolizei OGPU, dass der Kreis Batbakkarinsk neben einigen anderen Kreisen zu den vom Hunger besonders betroffenen Gebiete gehöre, in denen es praktisch kein Vieh mehr gäbe und die Felder nicht bestellt worden seien. Weiter war dort zu lesen: „Die Bevölkerung hungert. Die Kasachen ernähren sich von Wurzeln, die sie in der Steppe sammeln, Zieseln und Mäusen. Die Gebäude der Kreisverwaltung sind mit Hungernden überfüllt, die dort versterben. […] Im Kreis Batbakkarinsk sind insgesamt 8400 Menschen ohne Getreide.“ Das Elend der Bevölkerung nahm unvorstellbare Ausmaße an. Tausende Menschen verhungerten, und die Behörden waren nicht in der Lage, die Zahl der Toten zu registrieren. Im Frühjahr 1933 waren in einigen Teilen des Kreises nur noch knapp 25 Prozent der Bevölkerung am Leben.
Kasachische Wirtschaft am Boden
Die Hungersnot war nicht nur für die betroffenen Menschen eine Katastrophe, sondern sie war auch ein ökonomisches Desaster. Die einstmals riesigen Viehherden Kasachstans schmolzen in rasantem Tempo zusammen und zerstörten damit die Grundlagen der kasachischen Wirtschaft. Die sowjetische Führung um Stalin war zwar bereit, Millionen von Menschenleben zu opfern, aber den völligen Zusammenbruch der Landwirtschaft konnte sie nicht akzeptieren. Vor allem deshalb wurde bereits im Spätsommer 1932 ein Programm initiiert, mit dem einerseits Lebensmittelhilfen für die Hungernden organisiert wurden und das andererseits die teilweise Verteilung der vergesellschafteten Viehbestände an die Bevölkerung vorsah.
Die Hilfe war in vielen Fällen unzureichend, und oft kam sie zu spät. Häufig erreichte sie nicht die Ärmsten, sondern diente der Versorgung von Bürokraten und Bediensteten des sowjetischen Staates. Dennoch: dort, wo verarmte Kasachen ein oder zwei Tiere aus den Kolchosbeständen erhielten, bedeutete dies für viele von ihnen die Rettung vor dem Hungertod. Ein Mann aus Batbakkarinsk erklärte: „Wenn ich eine Milchkuh bekommen würde, wäre ich der glücklichste Mensch, und meine Familie wäre versorgt.“ Doch für die Menschen, die selbst nichts hatten, war es unsagbar schwer, die Tiere über die Wintermonate zu bringen. Viele schlachteten daher die Kühe, Ziegen oder Schafe, obwohl dies streng verboten war und schwerste Strafen nach sich zog. Ungeachtet solcher Probleme waren es gerade diese an die Familien verteilten Tiere, die das Überleben abertausender Menschen sicherten und zugleich Reste der kasachischen Viehbestände bewahrte. Das sowjetische Kolchossystem hatte sich dafür als unfähig erwiesen.
Hungerflüchtlinge
Zu den größten Problemen mit denen die Behörden im Kreis Batbakkarinsk konfrontiert waren, gehörten die kasachischen Hungerflüchtlinge, die so genannten „otkochevniki“. Diese Menschen hatten in der Regel alles verloren. Die meisten unter ihnen besaßen keinerlei Vorräte und viele waren aufgrund des Hungers zu geschwächt, um auf den Kolchosfeldern zu arbeiten. Im Frühherbst 1933 zeigte sich, dass trotz anderslautender Direktiven bislang nur wenig für die Unterstützung der Flüchtlinge getan worden war. Weder waren für sie Häuser in ausreichender Zahl vorhanden, noch gab es Brennmaterial für Öfen und Herde.
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Zugleich vermutete der Staat selbst unter diesen verelendeten Menschen noch Feinde. In einem Bericht zur Lage der otkochevniki hieß es, dass bei der Verteilung von Nahrungsmitteln an die Flüchtlinge genau darauf zu achten sei, dass keine „sozial fremden Elemente“ und „bösartigen Bais“ Lebensmittelhilfe erhielten. Und ganz grundsätzlich gelte folgendes: „Die Ansicht, dass der Staat die Bevölkerung mit allem notwendigen versorgen müsse, muss man kräftig bekämpfen. Stattdessen muss man die Massen organisieren und mobilisieren, um die inneren Möglichkeiten des Kreises auszuschöpfen, und diese Möglichkeiten gibt es ohne Zweifel.“
Angesichts der fortdauernden Not der Bevölkerung war dies eine vollkommen zynische Einschätzung der realen Lage, die zugleich offenbarte, das Hilfe von außen in größerem Maße nicht zu erwarten war. Vielmehr sollten, so dekretierten es die Behörden, alle Anstrengungen unternommen werden, um den Ackerbau in der Steppe zu forcieren. Dafür sei es notwendig, Kanäle und Bewässerungsgräben zu graben. Um die Bevölkerung zu dieser anstrengenden Arbeit zu motivieren, sollten Lebensmittelhilfen und Vieh als Belohnung ausgelobt werden.
Wer wurde zur Rechenschaft gezogen?
Es lag in der Logik des stalinistischen Regimes, dass nicht die Führer des Staates, sondern Funktionäre vor Ort für die desaströsen Zustände verantwortlich gemacht wurden. Sie waren es, die Direktiven „von oben“ umsetzen mussten und für ihre Nichterfüllung zur Rechenschaft gezogen wurden. Derart unter Druck gesetzt, verloren auch die Verantwortlichen im Kreis Batbakkarinsk jedes Maß. Zugleich nutzten sie ihre scheinbar grenzenlose Macht dazu, sich selbst und ihre Anhänger zu versorgen. Als sich der Wind 1933 zu drehen begann, wurde ihnen ihr Verhalten während der Kollektivierung und der entstehenden Hungersnot zum Verhängnis. Es fehle, so hieß es, an „lebendiger Führung“ der Massen durch die Partei, die örtlichen Apparate seien „durchsetzt“ mit „sozial-fremden Elementen, die bis in die letzte Zeit auf führenden Posten“ gewirkt hätten, und niemand habe die Initiative zur Säuberung der Organisationen ergriffen. Angesichts solcher Vorwürfe war es nur eine Frage der Zeit, dass die meisten der Batbakkarinsker Mächtigen den Parteisäuberungen zum Opfer fielen.
Opfer einer erbarmungslosen Politik
Als die Hungersnot endete, war der Kreis Batbakkarinsk, ebenso wie alle anderen Regionen Kasachstans auch, wirtschaftlich am Ende. Von den Viehherden der Nomaden hatten nur kleine Bestände überlebt, die Landwirtschaft lag weitgehend brach und andere Wirtschaftszweige, etwa der Fischfang oder die Jagd auf wilde Steppentiere waren kaum entwickelt. Die Bevölkerung lebte in Armut und hatte kaum das Nötigste zum Überleben. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich Gesellschaft und Landwirtschaft von den Exzessen der Kollektivierung und den Verlusten der Hungersnot erholt hatten. Verantwortlich für diese Verelendung war die gewaltsame Politik des sowjetischen Staates gegenüber der Bevölkerung der Steppe. Die Menschen waren zu Opfern einer erbarmungslosen Politik geworden, für die der Einzelne keine Bedeutung hatte.