Eines der beliebtesten Ferienziele Kasachstans ist Borowoje. Die ungewöhnliche Berglandschaft, zahlreiche Seen und weite Wälder haben dem Nationalpark nördlich der Hauptstadt Astana zu seinem zweiten Namen verholfen: „Kasachische Schweiz“ nennen die Einheimischen das sagenumwobene Stück Erde, wo auch der kasachische Präsident persönlich eine strengbewachte Residenz hat.

Gut 200 Kilometer nördlich von Kasachstans Hauptstadt Astana soll es angeblich eine Landschaft geben, die der Schweiz zum Verwechseln ähnlich sieht. Und Sagen soll es da geben. Aber noch tuckert die Eisenbahn über flache und öde Ebenen. Birkenbaumgruppen stehen wie kleine Oasen mitten auf den Feldern und tragen kunterbunte Herbstmode: Grün, gelb und orange in allen Farbtönen ist auch heuer wieder in. Darunter weiden Schafherden und blöken ins Bewusstsein, dass die Kasachen vor gut 100 Jahren noch ein Nomadenvolk waren. Plötzlich taucht die Sowjetstadt Schutschinsk auf am Horizont und dahinter wölben sich sage und schreibe einige Hügelzüge. Diese lassen die Hoffnung auf Abwechslung wieder aufblühen. Vom Bahnhof in Schutschinsk schlängelt sich eine einwandfreie Straße mit frisch gezogener Mittellinie noch 20 Kilometer durch den Herbstwald. Schilder von Kurhotels lassen erahnen, was sich wenig später in voller Pracht offenbart: Die Schweiz in Kasachstan. See, Wald und Berge, das ist Borowoje, die „waldige Landschaft“, wie sie die Russen nennen. Am Dorfeingang links steht eine handfest gezimmerte Moschee und ihr gegenüber eine Kirche. Die wenigen übriggebliebenen Plattenbauten und einige farblose Holzhütten des 7000-Seelen-Dorfs erinnern herzlich wenig an die Schweiz.

Krieg und Frieden in Borowojes Legenden

Auf dem Dorfplatz von Borowoje dröhnt aus zwei Lautsprechern gleichzeitig unterschiedliche Musik und legt einem die Flucht nahe. Diese und das Dorf selber enden an einem gut bewachten Schlagbaum, der allerdings für die heransausenden Ladas von einem gelangweilten Polizisten bereitwillig angehoben wird. Hier beginnt der Nationalpark und mit ihm auch die Sagenwelt, wie Taxifahrer Sabid Nurscharipow zu erzählen weiß: „Borowoje ist die russische Bezeichnung aus Sowjetzeiten für Burabai. „Bura“ ist kasachisch und heißt Kamel.“ Sabid zeigt auf eine Bergkette, die tatsächlich den Höckern eines Kamels gleicht, und fährt fort: „Der Legende nach, soll ein weißes Kamel die Bewohner vor Feinden gewarnt haben, bevor es von einem Jäger erlegt wurde und bis heute oberhalb des Sees liegt.“ Auf die Frage, wer denn diese Feinde gewesen seien, ereifert sich Sabid: „Alle wollten sie Kasachstans fruchtbare Erde erobern. Die Mongolen, die Chinesen, die Kalmyken, einfach alle.“ In der Tat drehen sich fast sämtliche Legenden um Krieg um das schöne Stück Erde: Vom „Schlafenden Ritter“, der sich hinlegte und den Angriff des Feindes verschlief, über die „Drei Schwestern“, die die Stadt vor Feinden bewahrten, bis hin zur „Jungfrau“, die vom Feind geraubt wurde und sich in den See gestürzt haben soll. Lediglich der „besoffene Igel“ sei eine Erfindung der Touristenführer, um den Besuchern einen Anreiz zum Fotografieren zu geben, weiss die Souvenirverkäuferin Natascha. Die „Kasachische Schweiz“ wird nämlich immer beliebter, so Borowojes Tourismusmanagerin Ludmilla Botschagowa: „An den von uns angebotenen Touren nahmen im letzten Jahr 30.000 Personen teil, 10.000 mehr als im Vorjahr. Seit die Hotels hier rund ums Jahr arbeiten und Astana die Hauptstadt ist, kommen jedes Jahr mehr Leute her.“ Die Anwohner selber wissen zwar, dass ihre Heimat der Schweiz ähnlich sein soll, aber genauer nachgefragt, weisen sie einige geografische Unsicherheiten auf. „In der Schweiz leben doch die Schweden, oder?“, meint fragend der Aufseher in der Moschee.

Präsidiales Sanatorium

Märchenhaft sauber sind auch die Zimmer im Kurhotel „Otschekpes“, das mitten im malerischen Nationalpark gelegen ist und Zugang zum See bietet. Dort logiert Wera Michailowna, die im Wald nach Pilzen sucht. Trotz dichten Unterholzes ist die Rentnerin unübersehbar in ihrem hellblauen Fitnessanzug mit Kasachstanwappen auf der Brust. „Ich bin mit meinem Mann für zwei Wochen hier. Unsere Kinder kommen jedes Jahr her und haben uns den Aufenthalt finanziert“, sagt Wera. Sie wohne in einem Dorf, wo es keine Privathäuser gäbe und gesteht weiter: „Borowoje ist ganz angenehm. Aber ich stamme ursprünglich aus dem Ural. Und dort ist es noch viel schöner als hier.“ Und wahrscheinlich auch nicht so teuer, kostet doch das billigste Zimmer im Kurhotel 60 Dollar pro Person, die Präsidentensuite gar 2400 Dollar. Chefadministratorin Gultschechra Faisullajewa verrät: „Ab fünf Tagen sind zudem Essen, Sauna, Fitness und medizinische Behandlungen inbegriffen. Firmen wie „Bayer Groupe Science“, Microsoft oder HP halten bei uns ihre Seminare. Unser Kurhotel fasst knapp 300 Personen und ist im Sommer ständig ausgebucht.“ Das ehemalige Sowjetsanatorium wurde vor drei Jahren wiedereröffnet und unterliegt heute der Präsidialadministration der Kasachischen Republik. Der Präsident selber war lediglich im Jahr 2002 einmal hier, hat er doch nicht weit entfernt sein eigenes Anwesen, das laut Angaben des Taxifahrers Sabid jahraus, jahrein von der Nationalgarde bewacht wird, auch wenn der Präsident selber höchstens ein paar Male vorbeischaut.

14/10/05

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