Ausgerechnet zu Beginn der Corona-Pandemie, um genau zu sein vor etwa zweieinhalb Jahren, am 7. März 2020, kam mir bei einem abendlichen Abstecher zum Supermarkt der Gedanke, ein ganzes Jahr lang keine neuen Bücher zu kaufen, sondern mich darauf zu beschränken, zuallererst meine eigene Bibliothek zu durchforsten, zu lesen oder mich alternativ auf die Suche nach vergessenen Büchern zu machen, Geschichten von lebenden und toten Freunden oder wenig bekannten Dichtern nachzuspüren. Von jeher haben mich Ruinen, alte Häuser, Festungen fasziniert, weniger wegen der Architektur, sondern wegen der Menschen, die dort lebten, miteinander lachten oder weinten, hofften oder verzweifelten und sich wahrscheinlich wie wir fragten, wie es wohl weitergeht. Wie wird das Leben ‚nach der Krise‘ sein? Genauso oder anders als vorher, und wenn anders, dann wie?
9.7.83 Liebe Hilde! Viele liebe Grüße von schönen Tagen in Bad Wildungen, bei herrlichstem Wetter. Aber ich sorge mich um Dich. Hoffentlich fühlst Du Dich bald weniger unglücklich und kaputt; sonst mußt Du wieder zurückgehen. Heinz kommt am 13.7. für ein paar Tage nach Bad Salzuflen. Herzliche Grüße von Deiner Elisabeth und (unbekannterweise) von Heinz B.
In der Eingangshalle des Supermarkts steht seit geraumer Zeit ein Buchtauschregal, an dem ich nie vorbeigehen kann, ohne hinzusehen. Dieses Mal griff ich ein abgeschabtes Buch heraus, dem beim Aufschlagen eine Postkarte entfiel, geschrieben vor vierzig Jahren; ich habe sie oben zitiert (die Namen sind geändert). Es sind nur drei, vier Sätze; sie deuten aber eine Notsituation und einen Konflikt an. Ließe sich daraus vielleicht ein Roman machen? Wer war Hilde? Warum war sie unglücklich? In welcher Beziehung stand sie zu Elisabeth, und wer war dieser Heinz, der sie ‚unbekannterweise‘ grüßte?
Irgendwann werde ich das wahrscheinlich ausarbeiten. Zunächst aber legte ich die Postkarte wieder zurück ins Buch, das jetzt meine Aufmerksamkeit zu fesseln begann.
Die Odyssee
Das Buch in meiner Hand war „Irrfahrt und Rückkehr. Homers Odyssee nach dem Text des Lagers 437“– eine Adaptation von Homers Odyssee aus der Feder von Heinz Schwitzke. Entstanden war es in einer Krise, in der Gefangenschaft im sowjetischen Lager 437, irgendwo in den Wäldern zwischen Moskau und dem Weißen Meer. In diesem Lager wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs etwa 6 000 Menschen gefangen gehalten. Wie einst Odysseus träumten sie jahrelang von ihrer Rückkehr nach Hause, aber bis Mitte der 1950er-Jahre blieb das ein Wunschtraum.
Es gab im Lager Menschen aus verschiedenen Bildungsschichten: den einen war Homers Epos von früher vertraut, die anderen hatten nie davon gehört. Das ihnen gemeinsame Schicksal, in der Fremde festgehalten zu werden, sensibilisierte sie für diesen Stoff. Dreihundert Mal wurde Heinz Schwitzkes „Odyssee“ im Lager 437 von Herbert Gaertner, einem Mitinsassen, öffentlich vorgelesen: „Die Gefangenen, die schlichten noch mehr als die ,gebildeten‘, nahmen das große Gedicht auf, als seien sie Zeitgenossen des Odysseus, seine Gefährten.“ (Schwitzke, Heinz: Klappentext)
Musizieren unter schwersten Bedingungen
Ja, es wurde schon viel über die Leiden in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern, über das GULAG-System geschrieben, aber wissen wir, welche inneren Kräfte die Not im Menschen zu entfalten vermag, welche schöpferischen Kräfte bei Künstlern aller Art in solchen Situationen freigesetzt werden? Die Kultur, die menschliche Kreativität gehört zu einem der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen. Die Gefangenen im sowjetischen Lager 437 haben das bewiesen (wie auch die Insassen der nationalsozialistischen Konzentrationslager im Deutschen Reich).
Trotz Hunger, Unterdrückung, Isolation, Schwerstarbeit wurden mit den allereinfachsten Mitteln Musikinstrumente hergestellt, wurde gesungen, rekonstruierte man aus dem Gedächtnis ganze Partituren und veranstaltete Konzerte. In eiskalten unwirtlichen Wohnbaracken wurden Kompositionen von Haydn, Mozart und Beethoven, von Hindemith, Bartok und Stravinski gespielt (Schwitzke, Heinz: S. 13). Was trieb die Menschen anderes dazu, als die Verteidigung ihrer geistigen Freiheit und die Überzeugung, dass ihr Tun etwas war, was sie grundlegend vom Tier unterscheidet, was Trost spendet und Hoffnung nährt, sodass es sich lohnte, durchzuhalten.
Tod durch Lagerhaft und Zwangsarbeit
Während diese Menschen unter den quälenden Umständen des Arbeitslagers litten, „unter Durstqual in der fliegendurchsummten Sommerglut bis zu den Hüften im Sumpf standen und Bäume rodeten, oder während sie bei beißendem Eiswind vom Nordmeer wintertags über den schmalen federnden Steg schwere Lasten aus den Schiffen trugen, dachten viele von ihnen freiere Gedanken als jemals zuvor […].“
Bei diesen Zeilen musste ich an meinen Großvater denken, der Deutschland nur im Traum gesehen hatte, sich 1941 als Russlanddeutscher zum Volksfeind erklärt fand und von heute auf morgen zu jahrelanger Zwangsarbeit im sibirischen Ural verpflichtet wurde. Er starb 1945 mit 33 Jahren im Lager; meine Großmutter musste sich mit drei Kindern nach der Deportation in Kasachstan allein durchschlagen. Das jüngste Kind verstarb ein Jahr nach der Ankunft. Wie hatten sie sich die Zukunft vorgestellt – vorausgesetzt, sie hatten Zeit zum Nachdenken…
Wir schauen machtlos zu
In Europa tobt wieder Krieg. Ich bin sprachlos und war für einen Moment lang beinahe taub. In unseren Straßen galten erst kürzlich noch Regeln, die wir (vor allem die ältere Generation) sonst nur aus den Zeiten des Zweiten Krieges kennen: Ausnahmezustand, Versammlungsverbot, Ausgangssperre, Zwangsisolation und weitere Anordnungen sowie Strafen bei Zuwiderhandlungen – ein groteskes Vokabular aus der Vergangenheit, das wir lange für obsolet gehalten haben und welches im Osten Europas plötzlich eine wortwörtliche Bedeutung und Brisanz erlangte. Vor diesem Hintergrund erscheinen die pandemiebedingten Einschränkungen auf einmal wie die Generalprobe für all das, was nun passiert (und noch passieren würde?).
Der Feind greift an, auch Frauen, Kinder und ältere Menschen, und erzeugt unermessliches Leid und Flüchtlingsströme, deren Ausmaß vermutlich bald schon mit dem des Zweiten Weltkrieges vergleichbar sein wird. Kaum jemand hatte noch vor wenigen Monaten gedacht, dass die Zeit den Rückwärtsgang einlegen würde. Wir schauen machtlos zu, auch wenn sich unsere Freiheitsgedanken dagegen auflehnen. Die Welt steht wieder Kopf, mein Verstand weigert sich seit Wochen, gar Monaten, die neue Realität zu akzeptieren. Können wir etwas tun, damit wieder Frieden einkehrt? Wohl kaum, außer Flüchtlingen aktiv zu helfen, Trost und Geld zu spenden, diverse Antikriegsaktionen zu starten und vielleicht (auch) zu beten…
Denken wir freier und friedlicher!
Ja, all das ist wichtig ohne Frage. Dennoch sollten wir auch darauf achten, dass wir uns dabei selbst und unseren „inneren Frieden“ nicht verlieren – den Frieden, der dafür sorgt, dass der Hass keinen weiteren Hass erzeugt. Nur dann haben wir eine Chance, dass dieser Krieg nicht auf ganz Europa überschwappt.
Um den inneren Frieden zu finden, ziehe ich mich manchmal für eine Zeitlang zurück und stelle mir eine vollkommene Welt vor, in der wir zur Lösung jeglicher Konflikte uns ausschließlich unseres Verstandes bedienen, statt der niederen Tierinstinkte, die uns zuweilen dazu verführen, den vermeintlich kürzeren Weg mittels Gewalt einzuschlagen. Bin ich naiv? Mag sein, dass ich träume, etwa so wie einst der Franzose Xavier de Maistre, der um 1800 einen sechswöchigen Arrest mit „Zwei Reisen um mein Zimmer“ bestritt, eine am Tage und eine in der Nacht. Er hatte allerdings anschaulich gemacht, wie sich Grenzen überschreiten lassen: geografische, diskursive, Grenzen in uns selbst, die unser Individuum gefangen halten. Tun wir es ihm nach und begeben uns in die Welt, aber auch in uns selbst, und denken freiere und vor allem friedlichere Gedanken, als der Mensch es je gewagt hat. Tun wir es, damit der Mensch zum Menschen wird.