Am 5. Dezember 2022 tritt das Embargo der EU für Rohölimporte aus Russland, die über den Seeweg durchgeführt werden, in Kraft. Kasachstan exportiert rund 80 Prozent seines Erdöls oder 53,1 Millionen Tonnen über den Hafen im südrussischen Noworossijsk. Dieser bildet den Endpunkt der Pipeline des sogenannten Kaspischen Konsortiums, welche das Tengiz-Ölfeld im Westen des Landes, nahe der Stadt Atyrau, mit der russischen Hafenstadt am Schwarzen Meer verbindet. Experten befürchten diesbezüglich, dass kasachisches Öl, welches über russisches Territorium exportiert wird, nicht mehr eindeutig als solches identifiziert werden kann. Somit dürfte es im Zweifelsfall nicht mehr in die EU eingeführt werden.
Erstmalig im Sommer dieses Jahres rief der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew bei einer Sitzung zur Entwicklung des Transportpotenzials des Landes dazu auf, alternative Transportwege für Waren und Rohstoffe zu erarbeiten. Eine besondere Rolle käme in diesem Kontext der Diversifizierung der Transportrouten für Öl zu. In diesem Sinne beauftragte der Präsident das staatliche Mineralölunternehmen KazMunayGas damit, Möglichkeiten für den Transport von Öl über den transkaspischen Korridor zu erörtern. Auf der sogenannten transkaspischen Route werden Waren über den Hafen der kasachischen Stadt Aktau in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku verschifft. Von dort aus werden die Güter weiter per Eisenbahn entweder über die Strecke Baku – Tbilissi – Kars, oder alternativ über die georgische Hafenstadt Batumi und dann nochmals per Schiff über das Schwarze Meer nach Rumänien in Richtung Europa transportiert.
Kasachische Öllieferungen mehrmals unterbrochen
Auf der transkaspischen Pipeline ereignete sich im Laufe des Jahres eine Reihe von technischen Zwischenfällen. Diese haben möglicherweise zur Entscheidung der Regierung beigetragen, die Transportrouten für Erdöl zu diversifizieren. So sorgte im März ein Sturm für Schäden an mehreren schwimmenden Schläuchen der Fernverankerungen Nr. 2 und Nr. 3 zur Betankung von Schiffen am Marine-Terminal. Daraufhin musste die Verladung von kasachischem Öl über die Anlegestelle Nr. 2 für zwei Monate und jene über Nr. 3 für einen Monat unterbrochen werden. Am 19. April bezifferte der kasachische Finanzminister Jerulan Zhamaubaew den diesbezüglichen Schaden auf 218 bis 327 Millionen US-Dollar.
Später wurde die Arbeit der Anlegestellen Nr.1 und Nr.2 im Juni zu Untersuchungen potentieller Minen aus dem zweiten Weltkrieg auf dem Meeresgrund kurzfristig ausgesetzt. Am 6. Juli suspendierte ein Bezirksgericht der russischen Stadt Noworossijsk die Tätigkeit der transkaspischen Pipeline für 30 Tage. Das Urteil wurde am 11. Juli durch die Entscheidung eines Schiedsgerichtes aufgehoben, auf Grundlage welcher das Konsortium zu einer Geldstrafe von 200.000 Rubel verurteilt wurde. Im August führten Risse in den Verbindungsschläuchen der Auftriebtanks an den Fernverankerungen ein weiteres Mal zur Unterbrechung der Arbeit der Anlegestellen Nr. 1 und Nr. 2. Die diesbezüglichen Reparaturarbeiten an der Fernverankerung Nr. 1 konnten gegen Mitte November abgeschlossen werden, die von Nr. 2 hingegen dauern noch an.
Außerdem haben viele der am Konsortium beteiligten internationalen Firmen aufgrund der angespannten geopolitischen Situation rund um die Ukraine ihr Personal abgezogen. Laut Experten konnten die ausländischen Spezialisten kurzfristig nicht durch lokale Kräfte ersetzt werden, was dazu geführt hat, dass die vollen Transportkapazitäten der Pipeline nicht ausgeschöpft werden konnten.
Neue Transportrouten schon früh im Praxistest
Diesbezüglich erregte Mitte Oktober eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters Aufsehen. So soll das kasachische Mineralölunternehmen Tengizchevroil, ein Joint Venture der US-amerikanischen Energiekonzerne Chevron, ExxonMobil, KazMunayGas und der russischen Lukarco, noch im selben Monat eine Testlieferung von Rohöl im Umfang von 1.000 Tonnen per Eisenbahn ins finnische Vainikkala durchgeführt haben. Ebenso soll Total&Dunga, eine Tochter des französischen Energiekonzerns TotalEnergies bereits im September damit begonnen haben, Rohöl im Umfang von 25.000 Tonnen vom Hafen in Aktau über das kaspische Meer in Richtung der Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline zu verschiffen. Bis Ende des Jahres plane das Unternehmen damit, 200.000 Tonnen über diese Route in Richtung Europa zu transportieren.
Angesprochen auf die Meldung von Reuters während eines Briefings beim zentralen Kommunikationsdienst im Oktober, wollte der kasachische Energieminister Bolat Aktschulakow die jüngsten Pläne weder bestätigen noch dementieren. Aufgrund der langen Entfernung zwischen beiden Ländern seien in der Vergangenheit bisher zwar keine nennenswerten Mengen an Erdöl aus Kasachstan über diese Route transportiert worden. Der Minister verwies darauf, dass die besagte Exportroute als eine Option für zukünftige Öl-Exporte in die Region betrachtet werde. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass eine verstärkte Nutzung der Route von Kasachstan derzeit noch nicht möglich sei.
Grundsätzlich bräuchte es hierfür zunächst eine höhere Anzahl an Kesselwägen, um Lieferungen in größerem Umfang vornehmen zu können. Deren Verfügbarkeit auf dem Markt sei derzeit aber begrenzt. Zudem habe sich die Wagenumschlagshäufigkeit erhöht, sodass sich die Lieferzeit im Vergleich zu früher erheblich verlängert habe. Der Minister verwies daher auf andere Routen. So exportiere Kasachstan bereits 5 Millionen Tonnen Öl über die georgische Schwarzmeermetropole Batumi in Richtung Europa. Außerdem gelte es, mit den Partnern in Aserbaidschan die Möglichkeit auszuloten, ob kurzfristig rund 3,3 der 5 Millionen Tonnen, die derzeit über das russische Machatschkala exportiert werden, nach Baku verschifft werden können.
Kurzfristig kaum Alternativen
Zudem müsse laut Experten die Anzahl der Tanker im kaspischen Meer drastisch erhöht werden, um derartig große Menge an Erdöl von Aktau nach Baku zu transportieren. Gleichzeitig müsse die die Anzahl der Verladebrücken am Sangatschal-Terminal in Baku erweitert werden. Bezüglich des Weitertransports über die Baku – Tbilissi – Ceyhan – Pipeline in Richtung Europa gäbe es zudem offene finanzielle Fragen. So müssten sich die kasachischen Mineralölunternehmen mit den Pipelinebetreibern bezüglich der Transportgebühr einig werden. Da das kasachische Öl der Sorte Brent eine niedrigere Qualität aufweist als die in Aserbaidschan geförderte Sorte „Azeri-Light“, sei zu erwarten, dass die Pipelinebetreiber hohe Transportgebühren als Ausgleich verlangen.
Unter diesen Umständen sei eine großflächige Nutzung der transkaspischen Route erst ab 2024 realistisch, wie der kasachische Energieminister Aktschulakow Anfang November im Rahmen eines Pressebriefings mitteilte. Dies solle zunächst auf Basis einer Erweiterung der eigenen Förderkapazitäten geschehen.
Dennoch konnte laut dem kasachische Premierminister Alikhan Smailow ein erstes Abkommen zur jährlichen Lieferung von 1,5 Millionen Tonnen Erdöl über die Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline ab dem 1. Januar 2023 erzielt werden. Eine Erhöhung der Kapazitäten auf 6 bis 6,5 Millionen Tonnen werde angestrebt. Zudem habe die Firma „Tengizchevroil“ die Anzahl ihrer Kesselwägen bereits verdoppelt und mit Testfahrten in Richtung Batumi begonnen. Außerdem seien US-amerikanische Mineralölunternehmen laut Aussagen des Botschafters der USA in Kasachstan, Daniel Rosenblum, in direkte Gespräche mit der kasachischen Regierung zum Aufbau alternativer Transportwege involviert. Zugleich merkte der Botschafter an, dass KazMunayGas im September mit dem Export von Öl über die Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline begonnen habe.
Einfuhr von russischem Öl über Drittstaaten kaum zu verhindern
Inwiefern diese Sorge jedoch überhaupt berechtigt ist, das kasachisches Öl, welches über Noworossijsk verschifft wird, möglicherweise nicht in die EU eingeführt werden darf, bleibt abzuwarten. So müsste die EU konsequenterweise Öl-Importe aus Staaten wie Indien ebenfalls einschränken. Das südasiatische Land hatte seine Rohölimporte aus Russland kurz nach dem Ausbruch des militärischen Konfliktes in der Ukraine massiv erhöht, wie aus den Daten des indischen Handelsministeriums hervorgeht. Gleichzeitig haben die Öl-Exporte des Landes im Laufe des Jahres deutlich zugenommen. Da die Herkunft des indischen Öls nach der Verschiffung nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist, gehen Experten davon aus, dass russisches Öl über Umwege längst in der EU gelandet ist. Vor dem Hintergrund der bereits stark gestiegenen Energiepreise in Europa dürfte die EU jedoch kein Interesse daran haben, Öllieferungen aus Drittstaaten wie Kasachstan im Zweifelsfall zurückzuweisen.