Der Verlauf des Wahlzyklus 2023 und die Ambitionen der Deutschstämmigen – darüber haben wir mit Albert Rau, Vorsitzender des Parlamentarischen Ausschusses für Wirtschaft und regionale Entwicklung (01.2021-19.01.2023), gesprochen.
Herr Rau, die innenpolitische Agenda Kasachstans bringt jeden Tag Neuigkeiten. In dieser Woche wurde der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Stiftung „Wiedergeburt“ Yevgeniy Bolgert von Präsident Tokajew zum Abgeordneten des Senats im kasachischen Parlament ernannt. Auch die bevorstehenden Wahlen zur Maschilis versprechen „Überraschungen“. Diese werden im Laufe des Wahlkampfs deutlicher hervortreten. Aber vielleicht können Sie schon jetzt eine Einschätzung dazu geben, welche Chancen ethnische Deutsche haben, in die Maslichats und die Maschilis einzuziehen.
Zu den Kandidaten der deutschen Volksgruppe möchte ich Folgendes sagen: Sie müssen verstehen, dass die Deutschen ein Prozent der Gesamtbevölkerung Kasachstans ausmachen, und es ist deshalb unlogisch zu erwarten, dass sie zu Dutzenden oder Hunderten nominiert werden.
Mein Fall: In der Maschilis war ich Vorsitzender eines der wichtigsten Ausschüsse. Wer von den Deutschen kann zur nächsten Legislaturperiode einziehen? Die Verfassung wurde geändert: Die Volksversammlung Kasachstans empfiehlt dem Präsidenten fünf von zehn Kandidaten, die dann von ihm in den Senat berufen werden (vorher waren es 15). Und wir sind sehr froh, dass unter diesen fünf am 24. Januar Yevgeniy Bolgert vom Präsidenten zugelassen wurde.
Früher einmal saß Egor Kappel zwei Legislaturperioden lang im Unterhaus – er wurde damals von der Volksversammlung nominiert. Die Besonderheit besteht darin, dass die Volksversammlung Kasachstans einen Kandidaten nicht aus einer ethnischen Gruppe, sondern aus der Versammlung als Ganzes nominiert.
Welche Bedeutung hat dies für den Ethnos? Wie wichtig ist es für die Deutschen, in der Maschilis und den Maslichats vertreten zu sein?
Wenn wir uns in der AGDM – der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten im Rahmen der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen – treffen, bin ich immer wieder erstaunt, wenn unsere Kollegen aus Polen, Ungarn und anderen Ländern die Zahl der Sitze in ihren Parlamenten, Gemeinderäten und als Oberbürgermeister als Erfolg verbuchen.
Die AGDM umfasst 21 Länder, darunter Kasachstan. Wir berichten mehr darüber, wie wir im Allgemeinen arbeiten, was wir verändern, was wir neu aufbauen. Sie haben leicht unterschiedliche Prioritäten, aber die Positionen sind ziemlich stark. Ich denke, dass es in Kasachstan wichtig ist, auch deutsche Vertreter in den Machtstrukturen zu sehen. Erstens ist das ein Indikator für die Entwicklung der Ethnie, ihre Aktivität und ihren Platz in der sozialpolitischen Sphäre. Zweitens ist es eine Gelegenheit, auf diesen Ebenen die Probleme der Gemeinschaft zu lösen.
Was haben Sie persönlich im Parlament für die deutsche Ethnie erreicht?
In erster Linie sollten die Probleme in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden gelöst werden. Dies ist ein normaler, kompetenter Ansatz. So wurde beispielsweise eine wichtige Änderung an den Bildungsstandards vorgenommen. Früher bedeutete Dreisprachigkeit das Erlernen von Kasachisch, Russisch und Englisch. Das Ersetzen von „Englisch“ durch „ausländisch“ ermöglicht es den Schulen, Deutsch zu unterrichten. Es braucht nur den Willen der Eltern. Dies hat zu Ergebnissen geführt und zur Lösung unserer langjährigen Diskussion im Bildungsministerium der Republik Kasachstan beigetragen. Wären wir Deutschen nicht im Parlament vertreten gewesen, wäre die Diskussion vielleicht noch weitergegangen.
Gut, dass jemand wie Sie im Parlament gelandet ist. Und das, wo unser Ethnos lange das Schlusslicht im Kampf um die Mandate bildete.
Ich habe es bereits erwähnt: Viele Jahre lang war unsere Gemeinschaft nicht an der Heranbildung politischer Führungspersönlichkeiten beteiligt, und hatte auch nicht vor, zu denjenigen zu gehören, die vorrücken, gewinnen und Politik machen. Vor etwa fünf Jahren kamen andere Leute zur „Wiedergeburt“; ich wurde gefragt, ob ich die Leitung übernehmen wolle, und ich stimmte einer Amtszeit zu.
Es geht aber nicht so sehr um Persönlichkeiten als vielmehr um Strategie. Wir haben unsere überarbeitet. Wir haben der Jugend Priorität eingeräumt und im Rahmen der „Wiedergeburt“ eine Schule für Führungskräfte gegründet. Dies ist ein aktiver Teil der Jugendlichen, mit denen wir uns treffen, die wir motivieren und mit denen wir unsere Erfahrungen teilen. Ein Deutscher, der es in der einen oder anderen Epoche an die Spitze geschafft hat, hat eine Geschichte über seinen Weg dorthin zu erzählen. Sie ist nicht mit Rosen bestreut, aber sie ist lehrreich. Unser Programm enthält eine wichtige Botschaft: Wir sollten unsere Geschichte in Ehren halten, uns aber nicht an ihr aufhängen, sondern nach vorne schauen.
Für welche Ziele sollten wir uns motivieren und nach vorne schauen?
Um der Deutschen willen, die in Kasachstan geblieben sind. Ob es für sie einfacher oder schwieriger ist, in die Politik zu gehen als für uns, ist eine individuelle Frage; das kann man nicht pauschal beantworten. Unsere Erfahrung wird uns dabei sehr nützlich sein. Wir waren jung, wir haben oft bei null angefangen, wenn es um Politik ging. Was die Abfolge der Schritte betrifft, so spielten folgende Faktoren eine Rolle: die Erziehung, die militärische Ausbildung der Männer, das Beispiel der Eltern, der älteren Brüder, der eigene Charakter und die Entschlossenheit. Ein guter Anfang wäre zum Beispiel, vor dem 30. Lebensjahr Abgeordneter in seiner Stadt zu werden. Man muss hart arbeiten, um Erfolg zu haben. Jedes Ziel erfordert Anstrengung.
Sie waren an der Spitze staatlicher Strukturen und öffentlicher Einrichtungen, auch hatten Sie eine hohe Position im Parlament. Sie kennen viele Menschen im Allgemeinen und ethnische Deutsche im Besonderen. Kümmern sich viele Deutsche um ihre Karriere? Wer hat das Potenzial, einmal an Ihrer Stelle in die Maschilis einzuziehen? Gibt es solche Menschen unter den Kasachstandeutschen?
Potenzial entsteht durch Studium, Arbeit und Erfahrung. Eine Person kann „irgendwo im Nirgendwo“ leben und trotzdem sichtbar sein. Als ich Aufsichtsratsvorsitzender wurde, wurde jeder deutsche Name, der in der Presse erwähnt wurde oder im Internet auftauchte, „aufgegriffen“. Die DAZ ist aktiv an der Suche nach diesen Personen beteiligt. Auch kleine Erfolge, insbesondere in der Wirtschaft, im Sport und im öffentlichen Leben, werden hervorgehoben. Wir finden diese Personen und versuchen, sie in denselben Business Club einzubinden, der nicht für einen Tick, sondern für die Entwicklung der Personen und damit unserer Ethnie geschaffen wurde. Wir helfen ihnen sowohl praktisch als auch moralisch. Wir beteiligen uns an der Lösung von Problemen, und wenn sie einem jungen Menschen schwierig erscheinen, sollten wir ihn nicht im Stich lassen. Es gibt eine Menge interessanter und erfolgreicher Deutscher.
Als die Schule für Führungskräfte gegründet wurde, gab es mehr von ihnen. Aktiv zu sein, für das Land zu arbeiten, sich zu verbessern – diese Einstellung vermitteln wir. Ich nenne als Beispiel Jewgenij Wagner aus dem Gebiet Kostanaj. Er ist ausgebildeter Lehrer, arbeitete als Mähdrescherfahrer, wurde Betriebsleiter in einem großen landwirtschaftlichen Betrieb, macht Fortschritte und studiert Agrarwissenschaft. Und wir haben viele solcher vielversprechenden Menschen; es ist wichtig, sie zu identifizieren und zu unterstützen.
Sie haben einmal gesagt, dass eine Karriere, die sich horizontal entwickelt, gut ist. Dass man sich nicht ständig in die Höhe schrauben sollte. Glauben Sie das auch jetzt, im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen zur Maschilis?
Seit dreißig Jahren verfolge ich das Prinzip der horizontalen Karriere. Du arbeitest nur und das war’s; ohne den Gedanken, weiter aufzusteigen. Die Stelle kommt von selbst – es gibt eine goldene Regel des Managements. Ich kann mich glücklich schätzen, denn ich habe mich nur einmal auf eine Stelle beworben. Als ich von der Armee zurückkam, traf ich einen Klassenkameraden aus dem Kurshunkul-Bergwerk, der dort als Baggerführer gearbeitet hat und jetzt in Hamburg lebt. Er erzählte mir von dem neuen Bergwerk, wo ich gemäß meiner Bewerbung als Vorarbeiter eingestellt wurde. Und dann wurden mir Stellen angeboten, die ich annahm oder ablehnte. Es gab Zeiten, in denen eine Ablehnung nicht akzeptiert wurde. Deshalb bin ich nicht besorgt. Bei den letzten Wahlen habe ich mir auch keine Sorgen gemacht, ob ich auf die Parteiliste kommen würde oder nicht. Ich bin mit jeder Option zufrieden: Wenn die Partei sagt, dass ich gehen muss, gehe ich, und wenn nicht, gibt es etwas für mich zu tun.
Es ist normal, von jungen Jahren an bis zur Rente in einem Beruf zu arbeiten. Im Parlament gibt es eine Frist; man kann eine Menge verpassen. Sorgt das nicht für Bedauern oder Enttäuschung?
Da bin ich anderer Meinung. Nehmen wir den Sport; Laufen oder Schwimmen. Sie arbeiten an der Strecke, Sie berechnen die Minuten oder Sekunden. Im Parlament ist es dasselbe. Eine Frist ist festgelegt, behalten Sie diese im Kopf und versuchen Sie, das zu tun, was Sie versprochen und geplant haben. In der Exekutive ist die Situation, sagen wir mal, anders. Es stimmt, dass Sie vielleicht keine Zeit haben, das Programm umzusetzen. Ich habe viele Jahre lang in einem solchen Modus gelebt. In repräsentativen Gremien ist alles besser vorhersehbar.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Ljudmila Fefelowa.
Übersetzung ins Deutsche: Annabel Rosin.