Der Tourismus macht weltweit einen Anteil von über 9% des globalen Bruttoinlandsprodukts aus; in Kasachstan aber nur etwas über 3%, wie der neueste Bericht vom World Travel & Tourism Council aus dem Jahr 2023 verrät. Doch welche Perspektive hat die kasachische Tourismusbranche und welche Herausforderungen muss sie heute meistern?
Kasachstan liegt auf Platz 52 im Travel & Tourism Development Index (TTDI) vom Mai 2024, was einen Anstieg um 6 Plätze seit 2019 beschreibt. Der TTDI gibt Auskunft über ein Bündel von Faktoren, die sich positiv oder negativ auf die Entwicklung des Tourismussektors eines bestimmten Landes auswirken.
Durch die ausführliche Unterteilung in einzelne Wirtschaftszweige und politische Entwicklungen lassen die Daten eine umfangreiche Vergleichbarkeit zwischen den untersuchten Nationen und deren Tourismuspolitik zu. Der TTDI kann somit auch als Stütze für Privatinvestoren genutzt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Tourismusbranche des jeweiligen Landes darzustellen. Neben den Chancen der Tourismusbranche legt der Index ebenso landes- und sektorspezifisch die Herausforderungen und den Verbesserungsbedarf dar, was sich wiederum auf die zukunftsorientierte Entwicklung des Tourismus weltweit auswirken mag.
Im Falle Kasachstans sei positiv anzumerken, dass das zentralasiatische Land deutlich empfänglicher geworden ist durch den Ausbau von Infrastruktur, das Bedienen neuer Flugrouten und von Erleichterungen beim Visavergabeverfahren durch die Einführung des sogenannten „e-Visums“.
Gleichzeitig besteht weiterhin Nachholbedarf im Aus- und Neubau von Verkehrswegen, insbesondere in abgelegene Ortschaften. Des Weiteren könnte den Schwierigkeiten eines umständlichen Visavergabeverfahrens, das womöglich auch Touristen abschreckt, durch die Ausweitung von Partnerschaften mit Ländern zur visafreien Einreise entgegengesteuert werden.
Weiterer Ausbauplan für kasachischen Tourismus
Als Reaktion auf die schwächelnde Tourismusbranche kündigte der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew diesen Sommer ein Bündel an Maßnahmen an, um Investoren anzulocken und die Entwicklung des Sektors weiter anzukurbeln. Dazu gehören die Erneuerung des Schienenverkehrs und der Bahnstationen; zusätzlich der Ausbau von Autobahnen sowie mehr preisgünstige Flüge zwischen beliebten Reisezielen.
Der Naturschutz solle dabei nicht unter den Folgen des Tourismus leiden, sondern verantwortungsbewusst weiter mitgedacht werden. Das Bewusstsein für die unberührte Schönheit der Naturreservate müsse im Einklang stehen mit einem geschulten Bewusstsein der Besucherinnen und Besucher. Größere Events, wie die eben vollzogenen World Nomad Games in Astana, dienten dazu, auch auf internationaler Bühne auf die besondere Verbundenheit von Kultur, Tradition und Natur in Kasachstan aufmerksam zu machen.
Aktionen, wie die vom Präsidenten ins Leben gerufene „Taza Qazaqstan“-Umweltkampagne, sollen zu einem erhöhten Umweltbewusstsein in der Gesellschaft beitragen. Bei der seit April dieses Jahres in Kasachstan eingeführten Aufräumaktion haben bereits drei Millionen Menschen mitgemacht. Fraglich bleibt jedoch, wie sich das Programm in den kommenden Jahren auch in entfernten Gegenden, außerhalb der Großstädte entwickeln wird und wie es an die Gegebenheiten des angepeilten Ausbaus der Tourismusbranche mit zahlreichen ausländischen Besucherinnen und Besucher angepasst werden kann.
Über die Vernunft und Freude beim Reisen
Dagmar Schreiber veröffentlichte 2003 im Trescher Verlag den bisher ersten und einzigen Reiseführer über Kasachstan auf Deutsch. Die studierte Philosophin verliebte sich in das Land, als sie im Jahr 1994 an einem Kasachstan-Projekt mitarbeitete. Als Mitgründerin der „KasachstanReisen“ begann sie im Laufe der Jahre, umweltverträgliche Reisen durch das zentralasiatische Land zu begleiten.
Auch heute setzt sich die 62-jährige Reisebegeisterte für die Verträglichkeit von Umweltschutz und Reisen ein. Diese Einvernehmlichkeit findet sich in ihrer Philosophie wieder – statt die meiste Zeit mit schnellen Transportmitteln, wie Auto oder Bus, möglichst viel zu sehen, entdecke man doch die schönsten Orte zu Fuß oder auf dem Pferd, wohl bemerkt im Schritttempo.
Auf eindrucksvolle Weise verlieh Dagmar Schreiber in einem Interview für die „Info Shymkent“ vom September 2022 ihrem Wunsch Ausdruck, „dass alles so harmonisch abläuft, dass sich die Einheimischen noch zu Hause fühlen und nicht wie Darsteller in einem Ethnodorf; dass sich alle auf Augenhöhe begegnen können. Ich wünsche mir, dass der Tourismus die Natur nicht zerstört und dass man vernünftig für die Zukunft plant.“
Eine gewisse Zeit lang war Schreiber ebenfalls Beraterin für das „Informations- und Ressourcenzentrum Ökotourismus“ (IRZÖ), das sich für die Popularisierung der Idee des Ökotourismus einsetzt. Die Tätigkeit des IRZÖ verwirklicht die Idee eines „gemeinschaftsbasierten“ Reisens und unterstützt interessierte Reisende bei der naturnahen Unterbringung und Reiseplanung in lokalen Gemeinschaften Kasachstans.
Ökotourismus in Kasachstan
Die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) verbindet in ihrer Definition des 2002 geprägten Begriffs „Ökotourismus“ das Reisen zur Wertschätzung von Natur und Tradition in Naturgebieten mit einem Fokus auf den pädagogischen Wert. Zeitgleich soll dadurch die negative Auswirkung des Tourismus auf die Umgebung möglichst geringgehalten werden und durch den Tourismus zielorientiert zur Instandhaltung der Naturgebiete beigetragen werden. Ein solches Verständnis des Ökotourismus schließe auch die wirtschaftliche Komponente mit ein, die vor allem den lokalen Gemeinden zugutekommen solle.
In Kasachstan sind die beiden Nationalparks Katon-Karagai und Kolsai Koldery beliebte Reiseziele bei naturvernarrten Ankömmlingen. Auch um den Besucherstrom zu regulieren, haben die örtlichen Behörden 2022 virtuelle Touren implementiert. Durch die bereitgestellten 3D-Panorama- und Vogelperspektiven, die mittels Drohnenaufnahmen erstellt wurden, hilft die Maßnahme dabei, auch von zu Hause in die Naturreservate einzutauchen – und das ganz wetterunabhängig.
Nichtsdestotrotz ersetzen Bildschirmaufnahmen keinen tatsächlichen Besuch dieser pittoresken Landschaften. „90 Prozent der Besucher des Nationalparks besichtigen nur den Unteren Kolsai-See und verpassen damit zu Unrecht einen Besuch der mittleren und oberen Seen, obwohl genau diese der menschlichen Psyche am meisten geben“, merkt Hamit Achmetow, Forscher im Kolsai Koldery Nationalpark, dazu an. Viel eher soll die moderne Technologie der Drohnenaufnahmen den Interessenten dabei helfen, ihre Reise zu planen, und die Allgemeinheit auf die Naturreservate aufmerksam machen.
Darüber hinaus stärkt ein Besuch vor Ort den Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung, was einerseits die Erlebnisse der Reisenden bereichert, indem Übernachtungen in Jurten, den kasachischen Rundzelten, angeboten werden, und was andererseits hilft, die Erhaltung der hiesigen Traditionen zu finanzieren.
Über unangetastete Natur und lehrreichen Tourismus
Die Geschichte von Elmira Jumanowa ist bezeichnend dafür, wie ein umweltbewusster und zukunftsorientierter Tourismus aussehen kann. Sie leitet die Abteilung für Umwelterziehung und Tourismus im IRZÖ und führt häufiger Touristengruppen durch Naturreservate im Süden Kasachstans, am westlichen Tian-Shan-Gebirge, wo gleich drei einzigartige Naturreservate aufeinandertreffen. Darunter ist das Naturschutzgebiet Aksu-Schabagly, das seit 2004 für Touristen in Begleitung eines Touristenführers begehbar geworden ist. Die Regulierungen sehen vor, dass nicht mehr als 24 Touristen den Ort pro Woche betreten dürfen, damit sich das Naturschutzgebiet angemessen vom Einfluss des Menschen erholen kann. Die Touristensaison beginnt im Juni und geht bis in den November hinein. Im Rest des Jahres wird die nächste Saison vorbereitet und die touristische Infrastruktur optimiert.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde für Touristen eine umweltschonende Infrastruktur aufgebaut, deren Ausbaustufe noch „mit Potenzial nach oben“ eingeschätzt wird. Jumanowa merkt dazu an, dass die Weiterentwicklung im Personalbereich und die intermenschliche Vernetzung noch ausbaufähig sind. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Naturschutzgebiete könnten ihre Expertise durchaus aktiver verbreiten und so weite Teile reicher Natur Kasachstans mit einem größeren Publikum teilen, ohne dabei auf Kosten der Flora und Fauna zu leben.