Die vorgezogenen Bundestagswahlen in knapp zwei Wochen finden auf einem Höhepunkt der geopolitischen Instabilität in der Welt statt. Politische Analytiker behaupten, dass sich die Regierungspolitik in Deutschland stark ändern wird, und sie benennen bereits den neuen Kanzler und den Kurs des Landes für die nächsten vier Jahre. Die Deutschen in Kasachstan verfolgen die Informationen über die Ereignisse in Deutschland aufmerksam. Wir haben daher einige Fragen an Albert Rau, den stellvertretenden Vorsitzenden des Mäschilis des Parlaments der Republik Kasachstan und Doktor der Wirtschaftswissenschaften, gerichtet.

Herr Rau, die deutsche Außenpolitik ist von besonderem Interesse auch für jene, die in Ländern mit großen deutschen Kolonien leben. Verwandtschaftliche Bindungen, gemeinsame Projekte in der Wirtschaft, Sprache, Kultur – alles wird in Frage gestellt. Wenn eine andere Regierung an die Macht kommt, so fängt sie als Erstes an, das vorhandene Geld zu zählen und ihre Vorgänger zu kritisieren, die USA sind ein Beispiel dafür. Die deutsche Regierung hat ein Misstrauensvotum erhalten und ist damit, wie man in unserem Land sagen würde, nur noch interimistisch im Amt. Und plötzlich herrscht eine ganz andere politische und gesellschaftliche Stimmung in Deutschland…

Die Beziehungen Deutschlands zu Kasachstan als Land sollten sich nicht verändern, ich gehe nicht von etwas Kritischem aus. Wir haben zum Beispiel Unternehmen, die gemeinsame Projekte in der Wirtschaft durchführen. Und das ist ein „Plus“ für sie und für uns. Die deutsche Wirtschaft trifft Entscheidungen über Investitionen, Standorte, Personal etc. recht unabhängig von der Regierung. Auf politischer Ebene schafft die deutsche Regierung Rahmenbedingungen, aber sie betreibt keine Lobbyarbeit für irgendjemanden, im Gegensatz zu einer Reihe anderer Länder, die ich nicht nennen will. Wir schaffen im Gegenzug günstige Bedingungen für unsere Partner aus Deutschland. Deshalb sage ich mit großer Zuversicht, dass sich an den während des Besuchs von Bundeskanzler Scholz getroffenen Vereinbarungen über die Durchführung von Projekten und die Ausweitung des Handels, einschließlich des Handels mit Energieressourcen, unabhängig von einem möglichen Regierungswechsel in Berlin nicht viel ändern wird. Erst neulich habe ich ein Schreiben an unser Außenministerium gesandt mit der Bitte, mir Informationen über die Fortschritte der einzelnen gemeinsamen Projekte zu liefern. Einige davon verfolge ich selbst und ich möchte die Situation in ihrer Gesamtheit analysieren. Ich möchte betonen, dass die kasachstanischen Entwicklungsinstitutionen viele gemeinsame Projekte und sogar rein deutsche Projekte finanzieren, da Kasachstan in erster Linie Technologien und Kompetenzen benötigt.

Viele Analytiker sagen, dass die deutsche Wirtschaft im eigenen Land ins Wanken geraten ist. Das heißt, ein Scheitern ist auch bei deutschen Auslandsprojekten möglich.

Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin sicher, dass es in Deutschland keine Kehrtwende wie in Amerika geben wird. Die Besonderheit der deutschen Mentalität und Geschichte ist eine Garantie dafür. Ehrlich gesagt, genau das ist es, was wir brauchen: Welche Partei auch immer die Wahlen gewinnt, welche Koalition der neue oder der bisherige Kanzler auch immer bildet, die Zusammenarbeit mit dem Ausland bleibt für die deutsche Wirtschaft eine Priorität.

In Deutschland ist die Einstellung zu den bevorstehenden Wahlen etwas anders. In den Großstädten wurde früher nur gegen die AfD protestiert, aber jetzt protestieren sie auch gegen die in den Umfragen führende Partei und ihren Kanzlerkandidaten, und sogar gegen die Amerikaner – Trump und Musk.

Ich betone, dass die Proteste friedlich sind und hoffentlich in die Geschichte der deutschen Wahlen eingehen werden. Der politische Wettbewerb innerhalb Deutschlands ist die Grundlage für die Stabilität des Systems, mit all seinen Vor- und Nachteilen. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, daran zu erinnern: Von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis zum aktuellen Wahlzyklus haben sich die Sozialdemokraten wiederholt durchgesetzt, hier sei nur an Gerhard Schröder erinnert. Die SPD sieht Olaf Scholz als den auch künftigen Regierungschef, trotz des Misstrauensvotums gegen ihn und die gesamte Regierung, was ja der Grund für die vorgezogenen Neuwahlen war. Mit Hilfe eines Misstrauensvotums durch das Parlament wurden verschiedene Regierungswechsel in Deutschland herbeigeführt, auch bereits im 20. Jahrhundert. Und wenn wir die Geschichte genauer betrachten, so setzten sich die Christdemokraten in der Mehrzahl der Wahlen nach einem Misstrauensvotum durch. 2017 blieb Angela Merkel mit knappem Vorsprung Bundeskanzlerin, woraufhin sie erklärte, dass sie 2021, wenn ihre Amtszeit ausläuft, nicht wieder kandidieren werde, und sie hielt ihr Versprechen.

Vielleicht war dies eine Art Ende des „goldenen Zeitalters“ der Nachkriegszeit in Deutschland, einschließlich der Beziehungen zur großen Diaspora im Ausland?

2017 las ich ein Original des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD, um eine Zeile über die Unterstützung der Diaspora im Ausland zu finden. In dieser Vereinbarung wurde die Unterstützung für ethnische Gruppen festgeschrieben. Gleichzeitig habe ich mich auch mit den Grundsätzen der Koalitionsbildung beschäftigt. Auch die Deutschen in Kasachstan sollten wissen, dass keine Partei eine Regierung allein bilden kann. 2017 hatte Merkel dann zwei Monate lang mit den Grünen verhandelt, aber dabei ist nichts herausgekommen, denn die Grünen haben zu radikale Forderungen gestellt. Daraufhin sind CDU/CSU erneut zu den Sozialdemokraten zurückgekehrt. Beim nächsten Mal bildete Olaf Scholz eine, wie sich jetzt erwiesen hat, nicht sehr kohärente „Ampel“-Regierung, in deren letzter Vereinbarung wurde die Unterstützung für die Auslandsdeutschen nicht direkt erwähnt. In der Praxis fand sie jedoch statt und, wie ich hinzufügen darf, sie wurde auch nicht gekürzt, obwohl sie nicht offiziell festgeschrieben war. Und das ist ein schwerwiegender Punkt, denn er kann als Unterstützung „falls möglich“ oder „je nach Umständen“ interpretiert werden.

Sind es rein finanzielle Gründe?

Es sind wohl eher Parteigründe. Seit Bundeskanzler Kohl den Zuwanderern die Türen nach Deutschland geöffnet hat, wählen unsere Verwandten und Freunde in Deutschland aus „Gewohnheit“ die CDU und in Bayern die CSU. In Nürnberg unterstützte die Regierung einst die Einrichtung eines Neuansiedlungszentrums, unter anderem für Menschen aus Kasachstan.

Verlieren die Grünen in Deutschland nach der schnellen Entscheidung der USA, aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen, ihre Unterstützer? Übrigens: Greta Thunberg hat sich schon lange nicht mehr zu Wort gemeldet….

Die Diskussion wird leider geradezu unseriös, wenn es um die schwedische Umweltaktivistin geht. Und wenn es um die Grünen in der Politik geht, so sind viele Menschen dafür, dass die Grünen da nicht mitmachen sollten. Es geht nicht um den amerikanischen Präsidenten und seine Entscheidungen. Die USA haben, wie Sie sich erinnern werden, das Kyoto-Protokoll auch nicht unterzeichnet. Das Problem ist, dass es beim „grünen“ Handeln schon lange nicht mehr um die Umwelt geht. Es geht um alles andere als um den Kampf für das Klima. Es wird zwar genau so dargestellt, als ginge es um das Klima, aber das, was dann getan wird, ist eindeutig nicht im Interesse der Wirtschaft. Deshalb hat Merkel mit den Grünen auch keine Koalitionsvereinbarung abgeschlossen. Es gab viele von den Grünen vorgeschlagene Punkte, die nicht im Sinne der deutschen Souveränität waren. Gerade die Verbrennungsmotoren (ICE) wurden dann zum Stolperstein. Die Grünen forderten, bis 2030 nicht nur den Verkehr von Autos mit Verbrennungsmotoren in Deutschland zu verbieten, sondern auch deren Produktion einzustellen. Und was hätte das zur Folge? Der Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Wer zum Wohle des eigenen Landes handelt, der schlägt solche Entscheidungen nicht vor und trifft sie nicht.

Auch die Grünen engagieren sich unter dem Deckmantel der Menschen- und Minderheitenrechte im grassierenden LGBT-Geschehen in Deutschland. Trump bleibt in dieser Frage hartnäckig, vielleicht weitet er seine bedrohlichen Thesen auf Europa aus?

In der Welt hat sich ein Trend herausgebildet, ein neuer Ansatz: Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Berücksichtigung der Forderungen der Minderheit. Das muss man erst mal fertig bringen, die traditionellen Grundlagen der Demokratie, deren Wurzeln bereits im antiken Griechenland gelegt wurden, so sehr zu verdrehen! Die Deutschen sind ein vernünftiges, pragmatisches Volk. Die Mehrheit ist nicht geneigt, sich der Minderheit zu unterwerfen, und das sehen wir auch im Wahlkampf. Ich bin mir sicher, dass die Wahlen ohne Verwerfungen über die Bühne gehen werden. Deutschland wird nicht zusammenbrechen, das ist ausgeschlossen. Was die deutsche Volksgruppe in Kasachstan betrifft, so sind wir Bürger Kasachstans. Unsere Rechte sind durch die Verfassung gesichert. Unabhängig davon, wie Deutschland wählt, haben wir unseren eigenen Weg in der Politik und unseren eigenen Entwicklungsvektor.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Interview: Ljudmila Fefelowa.

Übersetzung: Annabel Rosin.

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